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Alles Geschichte - Der History-Podcast
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×Afrika. Der schwarze Kontinent. Dunkel, gefährlich, primitiv. So hat das Europa lange dargestellt. Erst nach der Kolonialzeit hat sich eine andere Geschichtsschreibung herausgebildet - von Afrikanern selbst, nicht nur über sie. Von Klaus Uhrig (BR 2016) Credits Autor: Klaus Uhrig Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Katja Amberger, Stefan Wilkening, Friedrich Schloffer, Heinz Peter Technik: Monika Gsaenger Redaktion: Gerda Kuhn & Nicole Ruchlak Im Interview: Prof. Dr. Toyin Falola, Prof. Dr. Andreas Eckert Besonderer Linktipp der Redaktion: SR: Fragen an den Autor Die traditionsreichste Sachbuchsendung im deutschen Sprachraum stellt seit über 50 Jahren jeweils ein Buch eines Autors eine Stunde lang im Gespräch vor – und das mittlerweile auch als Podcast. Die Themen reichen von Politik und Wirtschaft bis zu Gesundheit, Erziehung oder Psychologie. Dabei kann auch das Publikum Fragen an die Autorinnen und Autoren stellen. ZUM PODCAST Linktipps: Deutschlandfunk (2024): Afrika im Aufbruch – Koloniales überwinden, sich selbst bestimmen Die Geschichte Afrikas reicht Jahrmillionen zurück. Kulturschaffende wie Designerinnen und Musiker wollen heute auf dieser reichen Vergangenheit aufbauen, den Kolonialismus überwinden und selbst bestimmen, was Afrika ist. JETZT ANHÖREN ZDF (2023): Afrika von oben - Menschen In Afrika existieren viele unterschiedliche Volksgruppen. Ihre Art zu leben unterscheidet sich stark – von sehr ursprünglich als Jäger und Sammler bis hypermodern. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: Erzähler: Das große Missverständnis zwischen Afrika und der Geschichtswissenschaft zeigt sich bereits ganz am Anfang. Erzählerin: Also ganz am Anfang der Geschichtswissenschaft. MUSIK Erzähler: Am 26. Mai 1789 hält ein gewisser Friedrich Schiller seine Antrittsvorlesung an der Universität von Jena - mit dem Titel: "Was ist und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" Erzählerin: Der Saal ist völlig überfüllt. Schiller ist zu diesem Zeitpunkt längst als Schriftsteller berühmt. Außerdem ist das Fach neu. So neu, dass der Historiker Schiller offiziell eine Professur für Philosophie bekommt - denn Lehrstühle für Geschichte gibt es noch nicht. Die Geschichtswissenschaft beginnt gerade erst, sich als akademische Disziplin herauszubilden. Erzähler: Schillers Antrittsvorlesung findet ein begeistertes Publikum. Dass sie so lebendig wirkt, liegt auch an einem rhetorischen Kniff: Schiller zählt nicht nur die Errungenschaften der abendländischen Geschichte auf, sondern er kontrastiert sie immer wieder mit einem anschaulichen Gegenbeispiel: Die nach seinem Wissen völlig unzivilisierten Weltgegenden außerhalb Europas. Südamerika. Der Südpazifik. Afrika. Zitator (Schiller): „Was erzählen uns die Reisebeschreiber nun von diesen Wilden? Manche fanden sie ohne Bekanntschaft mit den unentbehrlichsten Künsten, ohne das Eisen, ohne den Pflug, einige sogar ohne den Besitz des Feuers. Manche rangen noch mit wilden Thieren um Speise und Wohnung, bei vielen hatte sich die Sprache noch kaum von thierischen Tönen zu verständlichen Zeichen erhoben.“ Erzählerin: Schiller ist kein Rassist. Das muss man dazu sagen. Er hat nur - wie fast alle Europäer - wenig Ahnung von der Welt außerhalb Europas. Erzähler: Er weiß zum Beispiel nicht, dass zu diesem Zeitpunkt mitten in diesem Afrika das zweitgrößte Bauwerk der Menschheitsgeschichte steht: Die Mauern von Benin im heutigen Nigeria. Eine mächtige Festungsanlage, die weltweit nur von der Chinesischen Mauer übertroffen wird. Erzählerin: Er weiß auch nichts von den Staaten an den großen Seen: Den Königreichen Bunyoro und Buganda und Ruanda, ihren komplexen Kulturen und ausgefeilten staatlichen Strukturen. Erzähler: Und dass es in Afrika - und zwar nicht nur in Ägypten - antike Hochkulturen gab, die bereits 2.000 Jahre vor seiner Zeit große Leistungen vollbrachten - auch das ist Schiller völlig unbekannt. Erzählerin: Seine Idee von "Universalgeschichte" ist eine Geschichte des Abendlandes. Dass irgendwelche Afrikaner dazu irgendetwas beizutragen haben könnten, ist offenbar selbst für einen der klügsten Köpfe des späten 18. Jahrhunderts kaum vorstellbar. Erzähler: Das ändert sich auch im 19. Jahrhundert nicht. Beispiel Hegel: Der berühmte Philosoph formuliert 1837 einen Gedanken über Afrika, der sich in den nächsten eineinhalb Jahrhunderten großer Beliebtheit erfreuen wird: Afrika, der Kontinent ohne Geschichte. MUSIK Zitator (Hegel): „Jenes (...) Afrika ist, so weit die Geschichte zurückgeht, für den Zusammenhang mit der übrigen Welt verschlossen geblieben; es ist das in sich gedrungene Goldland, das Kinderland, das jenseits des Tages der selbstbewußten Geschichte in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt ist.“ O-Ton Andreas Eckert: Die Vorstellung, Afrikaner könnten irgendwas entwickeln oder zur Menschheitsgeschichte Entscheidendes beitragen, das erschien den meisten Zeitgenossen einfach absurd oder unmöglich. Erzählerin: Andreas Eckert, Professor für Afrikanische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. O-Ton Andreas Eckert: Sicherlich gab es auch nicht so furchtbar viele Quellen. Aber der Hauptgrund ist glaub ich doch ein zutiefst rassistisches Denken. Und für ihn war Afrika etwas Unbekanntes, etwas Anderes, das er vor allem mit dem Sklavenhandel und der Sklaverei verband, und damit auch sehr stark ein zeitgenössisches Bild transportierte, das Afrika auch als Opfer auch des Sklavenhandels zeigte, aber eben als irgendwie erbärmlichen Kontinent, wo eigentlich nichts passiert. MUSIK Erzähler: Natürlich ist so ein Afrikabild für die europäische Öffentlichkeit auch durchaus praktisch. Denn im 19. Jahrhundert liefern sich die Europäer einen kolonialen Wettlauf um Afrika. Briten, Franzosen und Portugiesen annektieren große Gebiete. Der belgische König sichert sich den Kongo als Privatkolonie. Und gegen Ende des Jahrhunderts tauchen auch noch die Deutschen auf und besetzen die paar Landstriche, die noch übrig sind. Erzählerin: Und wenn das so arme Primitive sind, dort in Afrika, geschichts- und kulturlos, dann ist es natürlich völlig in Ordnung, sich ihre Länder einzuverleiben. Erzähler: Und die verquere Logik des Kolonialismus geht sogar noch einen Schritt weiter. Erzählerin: Es ist nicht nur natürlich, es ist sogar die verdammte Pflicht eines zivilisierten Europäers. Die Bürde des weißen Mannes. Erzähler: Das Bild vom geschichtslosen Kontinent hält sich noch lange - und das, obwohl mit den Kolonialherren auch die ersten europäischen Wissenschaftler nach Afrika kommen. Darunter auch ein paar Historiker. Erzählerin: Das Interesse an afrikanischer Geschichte ist allerdings immer noch überschaubar. Aus mehreren Gründen. Zum einen traut man den Afrikanern nicht zu, allzu viel Geschichte zu haben. Zum anderen versteht man die afrikanischen Sprachen noch zu wenig – und Schriftzeugnisse gibt es kaum. Erzähler: Das hält die Historiker und Sprachforscher aber nicht davon ab, wilde Theorien über die Geschichte Afrikas aufzustellen. Erzählerin: Eine der bizarrsten und mit Sicherheit die von den Auswirkungen her tragischste dieser Theorien ist die sogenannte Hamitentheorie. Erzähler: Sie hat ihren Ursprung in den Überlegungen des englischen Forschungsreisenden John Hanning Speke. Speke hatte bereits Anfang des 19. Jahrhunderts eine Expedition angeführt, die sich auf die Suche nach den Quellen des Nils machte. Dabei drang er bis ins Gebiet des heutigen Uganda und Ruanda vor. Erzählerin: Dort traf er - für ihn überraschend - auf äußerst komplexe Gesellschafts-Strukturen, die er sich nur dadurch erklären kann, dass dort unterschiedliche Stämme nacheinander eingewandert seien. Für ihn und seine Nachfolger war dadurch klar: Die Geschichte Afrikas musste eine Geschichte von Wanderungsbewegungen sein. O-Ton Andreas Eckert: Das war allerdings oft sehr rassistisch geprägt und immer mit der Idee verbunden, bestimmte Entwicklungen in der Geschichte Afrikas könne man eigentlich nur erklären über den Einfluss von Nicht-Afrikanern, von Gruppen, die nach Afrika eingewandert sind, hellhäutige Gruppen. „Hamiten“ wurden die oft genannt und es gibt eine sogenannte Hamitentheorie, die im Grunde besagt, dass alles, was in Afrika an Entwicklung vor der Kolonialzeit geschah, von diesen Völkern von außen initiiert worden ist. Erzähler: Der Begriff „Hamiten“ geht auf die biblische Geschichte des Ham zurück. Ham, ein Sohn des Noah, wird darin von seinem Vater verflucht. Wobei sich der Fluch nicht direkt auf ihn bezieht, sondern auf seine Nachkommen. Erzählerin: Schon früh wurde diese Geschichte von Juden, Moslems, und Christen auch rassistisch interpretiert: Der Makel des Fluches sei sichtbar geworden durch die dunkle Hautfarbe der Nachkommen Hams. Erzähler: In der modernen Interpretation wurden die Hamiten dann zu einer eigenen Rasse erklärt. Hamiten seien zwar dunkelhäutig, aber bei genauerem Hinsehen nicht ganz so schwarz, wie andere Schwarze. Außerdem seien sie intelligenter und kriegerischer und hätten so, aus dem Nahen Osten kommend, viele "minderwertige" Völker unterworfen. Erzählerin: Ein Beispiel: Ruanda. Die Gesellschaft in Ruanda gliedert sich traditionell in zwei Gruppen: Hutu und Tutsi. Die Hutu waren früher großteils Bauern und stellten die große Masse der Bevölkerung. Die Tutsi dagegen waren großteils Viehhirten und bildeten die schmalere Oberschicht der ruandischen Kultur. MUSIK Erzähler: Die Vertreter der Hamitentheorie interpretieren diese Gesellschaftsstruktur so: Die Hutu seien die ursprüngliche Bevölkerung Ruandas, und vergleichsweise primitiv. Die kriegerischen und klugen, weil angeblich „hamitischen“ Tutsi seien irgendwann von Norden her eingewandert, hätten die Hutu-Bauern unterworfen und bildeten nun die "natürliche Oberschicht" des Landes. Jahrzehntelang ist diese Theorie wissenschaftlicher Konsens. Und das, obwohl sie schon im Falle Ruandas voller Widersprüche ist. So kann sie kaum erklären, wieso die angeblich völlig unterschiedlichen Völker der Hutu und Tutsi die gleiche Sprache sprechen, die gleichen Götter anbeten, überhaupt: Teil derselben Kultur sind. Andreas Eckert: O-Ton Andreas Eckert: Die Hamitentheorie ist wissenschaftlich völliger Humbug. Sie ist aber natürlich wirkungsmächtig gewesen, weil sie auch in ein bestimmtes Bild hineinpasst. Und weil es eben durchaus sehr bekannten Wissenschaftlern der Zeit gleichsam gelungen ist, diese Theorie wissenschaftlich scheinbar zu belegen. Mit bestimmten sprachgeschichtlichen Zeugnissen, die dann vermeintlich Hinweise auf bestimmte Wanderungen geben und so weiter und so fort. Sie hat eben den Zeitgeist relativ gut widergespiegelt und schien gewissermaßen rassistische Annahmen auch wissenschaftlich zu belegen. Das klärt ein Stück weit ihren großen Erfolg bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Erzähler: Im Falle Ruandas entwickelt die Hamitentheorie dann schließlich ein gespenstisches Eigenleben. Die Belgier übernehmen 1918 Ruanda von den Deutschen und errichten ein äußerst rassistisches Kolonialregime. Dabei bedienen sie sich der traditionellen Tutsi-Eliten, denen sie mit der Hamitentheorie eine Rechtfertigung für ihre Höherstellung in der ruandischen Gesellschaft liefern. Erzählerin: Gemeinsam schreiben Tutsi und Belgier eine neue Geschichte des Landes, in der Tutsi zu einer überlegenen Eroberer-Rasse stilisiert werden, die sich ganz „natürlich“ die Herrschaft über die Hutu erkämpft hat. Erzähler: Später wird genau diese Geschichtserzählung den Tutsi zum Verhängnis. Nach der Unabhängigkeit kommt in Ruanda die Hutu-Mehrheit an die Macht. Die neuen Hutu-Eliten übernehmen die rassistische Geschichtsschreibung – deuten sie aber in ihrem Sinne um. Denn wenn die Tutsi tatsächlich irgendwann später nach Ruanda eingewandert waren – sind sie dann nicht eigentlich Invasoren? Fremde, die gar nicht nach Ruanda gehören, und die man genauso gut wieder vertreiben könnte? Erzählerin: Jahrzehntelang kocht die Hutu-Rassenideologie vor sich hin, immer wieder gibt es Pogrome an den Tutsi, dann einen Aufstand von Tutsi-Rebellen. Schließlich bildet sich Anfang der 90er Jahre eine radikale Hutu-Bewegung, die ganz offen über die Ausrottung der zu „fremden Einwanderern“ erklärten Tutsi nachdenkt. O-Ton Andreas Eckert: Ruanda ist ohne Zweifel das radikalste und traurigste Beispiel, dass eine solche Theorie dann eben nicht nur von Europäern, sondern auch von afrikanischen Eliten blutig gleichsam in die Praxis getragen wurde. Erzähler: Was dann passiert im Frühjahr 1994 ist bekannt: Der Genozid an den Tutsi. Eine Million Tote. MUSIK Erzählerin: Natürlich gibt für den Genozid zahlreiche weitere Gründe: wirtschaftliche, machtpolitische. Aber als Begründung für den größten Massenmord der afrikanischen Geschichte wird immer wieder die angebliche „Fremdrassigkeit“ der Tutsi angeführt. Erzähler: Nicht überall wird die koloniale Geschichtsschreibung so wenig hinterfragt, wie in Ruanda. Im Gegenteil. Erzählerin: Als in den späten 1950er und frühen 60er Jahren die meisten afrikanischen Staaten unabhängig werden, ist das Interesse an der eigenen Geschichte groß. Für den bekannten nigerianischen Historiker Toyin Falola ein beispielloser Aufbruch. O-Ton Toyin Falola: Very big interest. Because we want to know our past. We want to use the information on this past to build development. We are interested in making history relevant to contemporary education and were also interested in connecting history to nation building. Overvoice: Das Interesse an Geschichte war riesig. Wir wollten unsere Vergangenheit erforschen. Und wir wollten dieses Wissen nutzen, um uns weiter zu entwickeln. Wir wollten, dass die Geschichte eine wichtige Rolle in unserem Bildungssystem spielt. Und natürlich ging es auch um die Rolle der Geschichte für den Aufbau unserer Nation. Erzähler: In vielen afrikanischen Staaten entwickelt sich eine eigene Geschichtswissenschaft. Von den Europäern übernimmt man wissenschaftliche Methoden – ohne sich allerdings die europäischen Geschichtsdeutungen zu eigen zu machen. Erzählerin: Mündliche Erzählungen werden von einigen dieser Historiker erstmals als gleichwertige Quellen akzeptiert. Und die alten Quellen, die Reiseberichte und Kolonialgeschichtsbücher, werden sozusagen gegen den Strich gelesen. Also analysiert und hinterfragt. Toyin Falola: O-Ton Toyin Falola: There was a generation before me that was interested in what we call Nationalist Historiography. The idea of Nationalist Historiography is to argue that Africans in the past were able to create great civilizations, like Egypt, Mali Empire or Ghana Empire. They wanted to argue that Africans have been able to manage their continent and to create leadership that could manage. Overvoice: Das war eine Generation vor mir. Da gab es großes Interesse an dem, was man "Nationalist Historiography" nannte. Die Idee dahinter ist, zu argumentieren, dass Afrikaner in der Vergangenheit große Zivilisationen geschaffen haben. Ägypten, Mali, das Reich von Ghana. Die Forscher wollten zeigen, dass Afrikaner durchaus in der Lage waren, ihren Kontinent zu verwalten und eigene Führungsschichten hervorzubringen. Erzähler: Die Vertreter dieser “nationalistischen Geschichtsschreibung” konzentrieren sich stark auf die positiven Errungenschaften afrikanischer Völker. Viele von ihnen betätigen sich nebenbei auch als Schriftsteller oder Politiker. Erzählerin: Zahlreiche europäische Geschichtsdeutungen werden auf einmal von afrikanischen Wissenschaftlern völlig auf den Kopf gestellt. Und nicht nur das: Auch in Europa und den USA beginnt in den 50er und 60er Jahren ein Umdenken – weg vom Rassismus, hin zu einer neuen, weniger vorurteilsbelasteten Art der Geschichtsschreibung. Erzähler: Einer der bekanntesten und zugleich umstrittensten afrikanischen Historiker dieser Zeit ist der Senegalese Cheikh Anta Diop. O-Ton Andreas Eckert: Der hat betont, dass das alte Ägypten viele Impulse gesetzt hat, die nachher die Griechen gleichsam geklaut und als ihre eigenen ausgegeben haben. Also dass die Wiege der Zivilisation eigentlich in Ägypten und damit in Afrika spielt. Um das ganze Argument noch zu verstärken hat er behauptet, dass eben ein Großteil des alten Ägyptens von einer schwarzen Bevölkerung bevölkert war, und das ist natürlich etwas, was sich wissenschaftlich als kaum haltbar erweist, zeigt aber noch mal sehr deutlich diesen Versuch jetzt, in besonders radikaler Weise auch die Geschichte gleichsam zu politisieren und für die Gegenwart relevant zu machen, indem man eben sagt, wir haben eine glorreiche Geschichte, und an diese Geschichte müssen wir jetzt nach dem Joch der Kolonialzeit wieder anknüpfen. Erzählerin: Bei Cheikh Anta Diop lassen sich Geschichtswissenschaft und politischer Aktivismus kaum trennen. Drei Parteien gründet er im Laufe seines Lebens - von denen allerdings nie eine die Regierung stellt. Seine Schriften sind leidenschaftliche Manifeste gegen die europäische Geschichtsdeutung. Erzähler: Heute ist zwar die Universität der senegalesischen Hauptstadt Dakar nach Diop benannt. Doch seine radikalen Interpretationen teilen nur noch wenige afrikanische Forscher. MUSIK Erzählerin: Auf den großen Aufbruch der 60er Jahre folgt in den meisten afrikanischen Ländern die große Ernüchterung. In einigen Staaten brechen schon kurz nach der Unabhängigkeit blutige Bürgerkriege aus - im Kongo zum Beispiel, etwas später auch in Nigeria. Dazu kommt: Die allgegenwärtige Korruption. Erzähler: Die weißen Kolonisatoren sind weg - doch die neuen, einheimischen Eliten beuten ihre Bevölkerung weiter aus. Viele der jüngeren Intellektuellen, darunter auch Historiker, werden zu den schärfsten Kritikern ihrer eigenen Staaten. O-Ton Toyin Falola: In my own generation we began to look for new ideas. Especially Marxism. We’re looking for socialist ideas to transform the continent. Because of the disappointment with the performance of the states. So in the 70s and 80s you find academics of the left trying to write radical history and use that radical history to make an argument regarding the failure of the postcolonial state. I was part of that movement. Overvoice: Meine Generation begann dann, sich neuen Ideen zuzuwenden. Vor allem dem Marxismus. Wir wollten mit sozialistischen Idealen unseren Kontinent verändern - Weil wir so enttäuscht waren von den postkolonialen Staaten. Also gab es in den 70ern und 80ern viele linke Akademiker, die anders an die Geschichtsschreibung herangegangen sind. Radikal. Politisch. Um auf das Scheitern der Postkolonialen Staaten hinzuweisen. Auch ich habe zu dieser Bewegung gehört. Erzählerin: Trotz aller Versuche, die Geschichtswissenschaft in Afrika neu zu etablieren, ist ihr Einfluss in den letzten Jahrzehnten eher zurückgegangen. Viele afrikanische Staaten haben ihren Universitäten die Gelder gekürzt. Erzähler: Und gerade die Geisteswissenschaften haben in vielen Ländern einen schweren Stand, wie Toyin Falola am Beispiel seines Heimatlandes Nigeria erklärt. O-Ton Toyin Falola: It is not useful to find jobs. (…) You find the same argument in other places. Arguments that humanities in general, English, literature art history, history, they’re a waste of time in the sense that if you get degrees in them, there are no jobs waiting for you. And the second argument, specific to Nigeria is that they fought a civil war and they thought that talking about that civil war may create problems for the country. Overvoice: Man findet eben keinen Job damit. Das Argument gibt es doch immer wieder: Dass die ganzen Geisteswissenschaften, Sprache, Literatur, Kunstgeschichte, Geschichte, dass das alles Zeitverschwendung ist, weil mit so einem Abschluss keine Jobs auf einen warten. Und in Nigeria gibt es noch ein ganz anderes Argument: Dort gab es ja den Bürgerkrieg. Und heute denken viele, wenn man über diesen Krieg reden würde, könnte das große Probleme für unser Land verursachen. Erzählerin: Noch dazu verlassen häufig die besten Forscher ihre Heimatländer und gehen ins Ausland - vor allem in die USA. Erzähler: Auch Toyin Falola hat zwar in Nigeria studiert, unterrichtet aber schon seit vielen Jahren an der University of Texas in Austin. O-Ton Toyin Falola: The brain drain started in the 1980s with the structural adjustment program. African countries owed a lot of money. (…) And then the World Bank and IMF asked them to devalue their currencies. Asked them to cut down the number of university professors. Cost of living was high. And that’s the brain drain – in which you find African engineers, African doctors, African professionals leaving Africa and coming to the west. Overvoice: Dieser "Brain Drain" begann in den 1980ern mit dem sogenannten Strukturanpassungsprogramm. Die Afrikanischen Länder hatten viele Schulden. Und dann kamen die Weltbank und der IWF und sagten, sie sollten ihre Währungen entwerten. Uni-Professoren entlassen. Die Lebenshaltungskosten waren hoch. Da begannen afrikanische Ingenieure, Ärzte und andere Akademiker, Afrika zu verlassen und in den Westen zu gehen. MUSIK Erzählerin: Trotz aller Probleme werden immer noch viele spannende Entdeckungen aus der afrikanischen Geschichte zu Tage gefördert. Das ist auch der Archäologie zu verdanken. Erzähler: Lange hatten sich europäische und amerikanische Archäologen in Afrika ausschließlich für Ägypten interessiert. Das ändert sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - mit teilweise spektakulären Ergebnissen. Erzählerin: Alleine in Nigeria finden Archäologen Artefakte zahlreicher antiker Kulturen. Darunter die faszinierenden Kunstwerke des Volkes der Nok, die schon um 600 vor Christus qualitativ hochwertige Eisengegenstände herstellten. Erzähler: Und auf dem Gebiet des heutigen Sudan studieren Forscher sogar die Überreste von drei aufeinanderfolgenden Hochkulturen: Kerma, Kusch und Meroe, jeweils benannt nach den Hauptstädten der antiken Staaten. Die späteste dieser Kulturen, das Königreich von Meroe, existierte rund um Christi Geburt. Die Meroiten erbauten nicht nur beeindruckende Tempel und Grabstätten, sondern hatten auch eine eigene Schrift und weitreichende Handelskontakte bis ins antike Europa. Erzählerin: Kurz gesagt: Was die Archäologen in vielen Regionen des Kontinents zu Tage fördern, lässt sich nun wirklich überhaupt nicht in Einklang bringen mit dem Bild des wilden und geschichtslosen Afrika, das so lange unsere Vorstellung dominiert hat. Und auch die europäische und US-amerikanische Afrikanistik forscht mittlerweile an so vielen unterschiedlichen Kulturen, Epochen und Fragestellungen zur Geschichte Afrikas, dass schon eine bloße Aufzählung den Rahmen dieser Sendung sprengen würde. MUSIK Erzähler: Bleibt die Frage: Warum haben sich diese Erkenntnisse zwar in der Wissenschaft langsam durchgesetzt, aber nicht in einer breiteren Öffentlichkeit? Warum spielen die Meroiten oder Nok noch keine Rolle in unserem Geschichtsunterricht? Warum gibt es in unseren Fernsehprogrammen zwar zahllose Dokumentarfilme über die europäische Geschichte, aber aus Afrika fast immer nur Tier-Dokus oder Kriegsberichterstattung? Erzählerin: Auch der nigerianische Historiker Toyin Falola stellt fest, dass sich die alten Afrika-Bilder erstaunlich hartnäckig halten, egal was die Historiker herausfinden. O-Ton Toyin Falola: It has to be exotic, National Geographic, Massai, Wildlife. And then it has to be erotic. About sex. Many of these stereotypes relate to issues about backward people. Issues about a continent that doesn’t contribute to civilization. Issues about poverty and lack of dignity, issues about in popular imagination, that the place is a jungle and that it is all about violence, war, disease, those are the major stereotypes, that you find expressed in the media. Especially in a place like the US. (…) In other words, it’s the bad, bad, bad things that shape the media imagination of Africa. Overvoice: Es muss immer exotisch sein, so National Geographic-mäßig. Die Massai! Wilde Tiere! Und dann muss es noch erotisch sein. Es muss um Sex gehen. Diese Stereotype zeigen Afrikaner immer als rückständig. Ein ganzer Kontinent, der nichts zur Zivilisation beiträgt, arm und würdelos. Viele Menschen stellen sich ja vor, dass in Afrika überall Dschungel ist, dass es überall Gewalt gibt, Krieg, Seuchen. Das sind so die gängigen Vorurteile in den Medien. Vor allem in den Vereinigten Staaten. Kurz gesagt: Es ist immer das ganz, ganz, ganz Schlimme, das die mediale Vorstellung von Afrika prägt. Erzähler: Aber warum? Warum fällt es uns scheinbar so schwer, zu akzeptieren, dass Afrika weder ein exotischer Abenteuerspielplatz ist, noch ein Kontinent der ausschließlichen und permanenten Katastrophen? Erzählerin: Vielleicht müssen wir für eine Antwort wieder zum Anfang der Geschichte zurückkehren, also zu Schiller und zu seiner Antrittsvorlesung. MUSIK Erzähler: Wir erinnern uns: Schiller hat ja überhaupt keine Ahnung von der Geschichte oder auch nur der Gegenwart der von ihm als "Wilde" bezeichneten Völker. Er benutzt sie nur als Gegenbeispiel. Als Kontrast, um daran zu zeigen, wie weit die europäische Zivilisation schon gekommen ist. Erzählerin: Vielleicht brauchen wir noch immer Afrika als Kontrast. Um uns besser zu fühlen, sicherer, fortschrittlicher. Erzähler: Und vielleicht ist dieses Bild auch immer noch - wie zur Kolonialzeit - nicht ganz unpraktisch. Zur Rechtfertigung westlicher Machtpolitik und ganz handfester wirtschaftlicher Interessen.…
Weiße US-Amerikaner kauften 1822 Land an der westafrikanischen Küste, um dort ehemalige Schwarze Sklaven anzusiedeln, in ein "freies Land", nach "Liberia". Doch die Neusiedler trafen auf bereits ansässige Ethnien, mit denen es bald zu Konflikten kam. Von Ariane Stolterfoht (BR 2022) Credits Autorin: Ariane Stolterfoht Regie: Frank Halbach Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Christian Schuler, Andreas Dirscherl, Julia Cortis Technik: Susanne Herzig Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Eric Burin, Dr. Patrick C. Burrowes, Dr. Cassandra Mark-Thiesen Besonderer Linktipp der Redaktion: NDR: Becoming The Beatles – Die Hamburger Jahre (mit Bonusfolge) We grew up in Hamburg", hat John Lennon gesagt. Und auch: "Live waren wir nie besser." Obwohl der erste Auftritt der Band in einem Stripclub auf St. Pauli ein totaler Reinfall war. Was ist da also passiert auf dem Hamburger Kiez zwischen 1960 und 1963? Wie wurden aus ein paar unbedarften Liverpooler Jungs absolute Superstars? Der Podcast erzählt, wie die jungen Beatles auf den Bühnen der Reeperbahn die Nächte durchspielen. Mit eisernem Willen einen Traum verfolgen. Und für immer die Popmusik-Geschichte verändern. ZUM PODCAST Linktipps: Deutschlandfunk (2019): Liberias blutige Vergangenheit Vor 30 Jahren brach in Liberia einer der blutigsten Bürgerkriege der Geschichte Afrikas aus. Heute herrscht in dem westafrikanischen Land zwar Frieden, aber die Aufarbeitung der Kriegsgräuel ist ins Stocken geraten. Viele Kriegsverbrecher sind straffrei geblieben. Der Kampf um Gerechtigkeit geht weiter. JETZT ANHÖREN ZDF (2022): Enslaved – Auf den Spuren des Sklavenhandels: Schweres Erbe Viele Nachkommen der Sklaven in den USA haben ihre Verbindung zu ihren afrikanischen Wurzeln verloren. Samuel L. Jackson ist einer der wenigen Glücklichen, die ihre Abstammung kennen. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK SPRECHER 1816. Die Vereinigten Staaten sind eine Nation in den Kinderschuhen – erst vor 27 Jahren haben sich die ehemaligen britischen Kolonien von Großbritannien getrennt. SPRECHERIN Die junge Nation sucht noch nach sich selbst. Wer sind wir? Wer wollen wir sein? Darüber sind sich die Amerikaner nicht einig. Insbesondere dann, wenn es um die Frage der Sklaverei geht. SPRECHERIN Im Süden schuften Sklaven weiterhin auf Plantagen und in den Haushalten der Weißen. Im Norden dagegen wird die Sklaverei nach und nach abgeschafft. Immer mehr Schwarze leben nun in Freiheit – einige arbeiten sogar als erfolgreiche Kleinunternehmer, erzählt die Historikerin Marie Stango von der staatlichen Universität Idaho: O-TON Stango “Generally, historians understand that following the period of the American Revolution, really brought about by the revolution, there was this movement towards gradual emancipation in the Northern States. And it is important to understand, too, that a lot of this was driven by enslaved people themselves. So for instance in MA, where there was an immediate abolition, this had to do with enslaved people themselves petitioning for their freedom. Using that same rhetoric of the American Revolution to argue that they also party to freedom, as much as the colonists should be no longer subject to the British Empire.” Übersetzerin „Historiker haben inzwischen herausgefunden: Die Emanzipation wurde vielerorts von versklavten Menschen selbst vorangetrieben – mit der Rhetorik der Amerikanischen Revolution. Die Freiheit stehe ihnen genauso zu wie den Siedlern, die nicht länger dem britischen Empire unterworfen sein wollten.“ SPRECHERIN Im Süden dagegen verursacht diese Entwicklung eine erhebliche gesellschaftliche Unwucht, erzählt Stango. O-TON Stango “Some of these enslavers start to worry that these free people might inspire enslaved people in other states to seize their own freedom. The Haitian revolution, for example, looms very large in the US imagination at this time. So in the early 19th century there is this fear that something like what happened in Haiti in which enslaved people overturned the colonial govt of Santo Domingo, overturned the system of Slavery.” Übersetzerin „Manche Sklavenhalter befürchten, dass sich ihre Sklaven an den freien Schwarzen ein Vorbild nehmen und auch in den USA Sklavenaufstände organisieren könnten. Die Revolution in Haiti beflügelt ihre Phantasie: Dort haben Sklaven gerade die französische Kolonialregierung gestürzt und die Sklaverei abgeschafft.“ SPRECHER Und so bekommt eine Idee Aufwind, die schwarzen Amerikanern zwar ein Leben in Freiheit ermöglichen soll, aber eben nicht in den Vereinigten Staaten, erzählt Eric Burin, Professor für Geschichte an der University of North Dakota. O-TON Eric Burin “For a lot of individuals, including Thomas Jefferson, they just couldn’t imagine black and white people living together on terms of equality. So even those individuals who had some misgivings about slavery, believed that if you are going to end slavery you also have to remove black Americans from the US and this becomes sort of the central idea of colonization.” Übersetzer 1 “Viele Menschen, darunter auch der Gründungsvater Thomas Jefferson, konnten sich einfach nicht vorstellen, dass Schwarze und Weiße gleichberechtig zusammenleben. Selbst die, die die Sklaverei abschaffen wollten, wollten auch, dass schwarze Amerikaner anschließend die USA verlassen. Und so entsteht die Idee von der Kolonialisierung.“ MUSIK SPRECHERIN Für die Ansiedlung von Schwarzen rückt erst der amerikanische Westen in den Fokus, dann die Karibik, Zentral- und Südamerika. Schließlich kristallisiert sich immer deutlicher heraus: Afrika soll es sein, der Herkunftskontinent der amerikanischen Schwarzen. SPRECHER Die Herausforderung heißt jetzt: Alle Befürworter dieser Idee zusammenbringen. Tatsächlich gelingt das im Dezember 1816. Sir Robert Finley gründet die American Colonization Society, kurz ACS, also eine „Amerikanische Gesellschaft für Kolonialisierung“. Alle Mitglieder sind verdiente weiße Amerikaner – weder schwarze Amerikaner noch Afrikaner sind erwünscht. SPRECHERIN Allerdings unterscheiden sich die Interessen der Gründungsmitglieder deutlich voneinander. Sklavenbesitzer unterstützen die Idee der Kolonialisierung, wie gesagt, aus Angst vor Sklavenaufständen. SPRECHER Aber auch Sklavereigegner sind mit von der Partie, darunter viele Kirchenvertreter. Insbesondere die Quäker unterstützen das Projekt. O-TON Burin “So in their minds, this was a patriotic endeavour that would somehow gradually end slavery in America, remove a population that they perceived to be a danger to the US, would benefit the emigrants themselves by removing them from the canopy of American racism and potentially redeem – in their words - Africa to Christianity and modern commerce if you will.” Übersetzer 1 „In deren Auffassung war das ein patriotisches Unterfangen: Die Sklaverei würde in den USA schrittweise abgeschafft und die schwarzen Landsleute, die sie für gefährlich hielten, würden außer Landes gebracht. Außerdem dachten sie, dass es gut für diese Menschen wäre, dem amerikanischen Rassismus zu entkommen. Nebenbei könnten die Emigranten auch gleich Afrika zu Christentum und modernem Handel bekehren.“ SPRECHER Mächtige Politiker lassen sich in die Sache einspannen. In späteren Jahren sogar die Präsidenten Thomas Jefferson, James Monroe und James Madison. Auch sie: Sklavenhalter. MUSIK SPRECHERIN Diese weißen Amerikaner machen sich also reichlich Gedanken. Was ihnen zur Umsetzung ihres Plans allerdings fehlt, ist die Finanzierung – Geld für Nahrungsmittel, für Schiffspassagen, für Waffen, für den Landkauf. SPRECHERIN Völlig unverhofft hilft ihnen dann ein neues Gesetz, staatliche Behörden zur Unterstützung zu überreden. Seit 1808 ist der Sklavenimport verboten. Alle von Menschenhändlern illegal ins Land gebrachten Afrikaner müssen wieder zurückgeführt werden. Hier bietet sich jetzt die American Colonization Society – ganz clever – als Dienstleister an: „Wir bringen diese Menschen – zusammen mit amerikanischen Schwarzen – „zurück“ nach Afrika. Dafür erhalten wir die Finanzierung für unser Projekt“. SPRECHER Sie bekommen den Zuschlag. Hunderttausend Dollar stellt der amerikanische Kongress 1819 für den Deal zur Verfügung. SPRECHERIN Jetzt fehlen der ACS nur noch die potentiellen Siedler – also schwarze Amerikaner, die tatsächlich bereit sind, die USA zu verlassen. Für eine völlig ungeklärte Zukunft an einem noch unbestimmten Ort, irgendwo in Afrika, dem Kontinent, den sie selbst, ihre Eltern oder Großeltern vor langer Zeit verlassen hatten… Die Vorbehalte der schwarzen Amerikaner gegenüber der Kolonialisierungsidee sind mächtig. Ein Großteil empfindet sie schlicht als Unverschämtheit. O-TON Burin “Black Americans had been in what became the US before the pilgrims. This in their estimation was THEIR land, it was THEIR society. It was the only one that they knew. They had helped it grow with their blood, sweat and tears. And so for White Americans to say: This is not really your country” “You don’t belong here” “you are not a part of this society and never will be”, was an affront! Übersetzer 1 „Schwarze Amerikaner waren der Auffassung, das sei auch ihre Gesellschaft und ihr Land – für viele das einzige, das sie kannten! Sie hatten mit Blut, Schweiß und Tränen zu seinem Aufbau beigetragen. Und jetzt sagten Weiße: Das ist nicht Euer Land, Ihr werdet nie dazugehören!“ MUSIK ATMO Hafen, Segelschiff, Unruhe, Geschrei, Möwen SPRECHER 1820 schließlich haben sich doch 86 Auswanderungswillige gefunden. Im Hafen von New York beginnt auf dem Segelschiff Elizabeth die Reise in ihr neues Leben. ATMO Hafen, Segelschiff, Unruhe, Geschrei, Möwen SPRECHER Ungefähr drei Monate später – endlich – kommt Land in Sicht. O-TON Stango “So that first ship, the Elizabeth, initially goes to Sierra Leone as does the Nautilus, which is the second ship. There is the British settlement at Sierra Leone, the development of Sierra Leone shares a lot of similarities with Liberia. So initially they land there, hoping to find a place further down the coast where they can negotiate a land sale. They are waiting there for quite some time. // So this process is quite gradual in fact. And the sources that talk about these early, early years of colonization talk about the precarity of these settlers. // They are desperate. They don’t have enough food supplies. Many of these settlers fall victim to illness and disease. Some scholars have examined the mortality rate during the early years of colonisation and it is very high.” Übersetzerin „Die Elizabeth segelt zunächst nach Sierra Leone, // Die Auswanderer warten dort auf der Insel Sherbro eine halbe Ewigkeit darauf, dass sie weiter unten an der Küste Land kaufen können.“ ATMO Sumpf SPRECHERIN Mangrovensümpfe, Gelbfieber, Malaria, Hunger: Über ein Viertel der Siedler sterben in dieser unwirtlichen neuen Heimat. Die Mission endet im Desaster. Einige retten sich zurück auf’s Festland, aber feststeht: Die ACS muss neue Wege finden, damit die Ansiedlung gelingen kann. MUSIK SPRECHER Und nun passiert etwas, was die Geschichte Liberias und deren Erzählung für zweihundert Jahre prägen wird. Im Jahr 1821 reisen zwei Männer nach Westafrika, die das Projekt auf neue Füße stellen sollen – der ACS-Agent Dr. Eli Ayres sowie der Marineoffizier Robert Stockton. Sie suchen und finden ein passendes Siedlungsgebiet und verhandeln schließlich vor Ort mit Stammesführern der Dey und der Bassa – insbesondere mit König Peter Zolu Duma. Sie einigen sich auf den Verkauf von einem Küstenstreifen am Cap Mesurado – der Preis: Lebensmittel, Geschirr, Waffen, Schießpulver, Schuhe, Schirme, Hüte und Spiegel sowie Rum. Der Gesamtwert: 300 Dollar. MUSIK SPRECHERIN Doch wie friedlich lief dieses Tauschgeschäft wirklich ab? Diesen Landstrich – so die offizielle Geschichtsschreibung – erwerben die Amerikaner mit Waffengewalt: Stockton habe seine Pistole gezückt und die Einheimischen zum Einlenken gezwungen. Auch hätten die gar nicht richtig verstanden, was sie da unterschrieben. Und damit habe eine lange Tradition des Landraubes und der Korruption begonnen, der die Streitigkeiten zwischen den arglosen Einheimischen und den Siedlern immer wieder angeheizt habe. SPRECHER Dieser Konflikt habe sich wie ein Schwelbrand durch die Geschichte gefressen. Bis in die Neuzeit hinein. Die Folge: Zwei verheerende Bürgerkriege in den 1990er und 2000er Jahren. Soweit die etablierte Geschichtsschreibung. MUSIK SPRECHERIN Doch ein liberianischer Historiker wollte das lange nicht glauben. Patrick Carl Burrowes weiß aus seinen Forschungen: Die immerhin 16 ortsansässigen Stämme waren alles andere als naiv: O-TON Burrowes “By the 1650s, people were drinking French Brandy and Caribbean rum, you had smoked Herring from the Mediterranean but you also had cod from the sea around Norway, that was salted. And brought here as well. And these would be added as seasoning as flavouring and also as a kind of prestige element in the cuisine. Because they weren’t readily available. In addition to that: clothing! A lot of fabrics that were preferred by West Africans at the time were actually from Asia. So European traders would bring them and trade them for local goods. They tried selling European fabrics. But people here weren’t interested in wool. And in some cases, they didn’t like the patterns. So, the preferred the colors etc that were coming out of Asia. So, you are talking about a kind of sophisticated consumer market with its own tastes influencing the products that were preferred. And then, of course, there were guns. Guns were exchanged for captives. So, there were Danish muskets and you know, other weapons available.” Übersetzer 2 „In den 1650er Jahren bereits tranken die Menschen französischen Brandy und karibischen Rum. Geräucherter Hering aus dem Mittelmeer sowie gesalzener Kabeljau aus Norwegen wurden einheimischen Gerichten als Zutat beigefügt – aus Prestigegründen. – Und Westafrikaner liebten Stoffe aus Asien! Europäische Händler brachten sie mit, um sie gegen lokale Waren einzutauschen. Sie versuchten auch, europäische Stoffe zu verkaufen. Aber die Leute hier interessierten sich nicht für Wolle. // Wir sprechen also von einer Art anspruchsvollem Verbrauchermarkt mit eigenen Präferenzen. Und dann waren da natürlich Waffen – darunter auch dänische Musketen – sie wurden unter anderem gegen Gefangene getauscht.“ SPRECHERIN Burrowes sagt: Es gibt diesen Ansatz in der Geschichtsschreibung, immer „große Männer“ als die einzig wichtigen Akteure darzustellen. In diesem Fall: die weißen Begleiter der schwarzen Siedler. SPRECHER Ein anderer Ansatz sieht die schwarzen Einwanderer als erfolgreiche Pioniere. SPRECHERIN Burrowes dagegen ist der Auffassung, dass es drei Player brauchte, um den Prozess der Ansiedlung erfolgreich voranzubringen. Ohne die Zustimmung der Einheimischen, so seine Überzeugung, wäre der Deal nie zustande gekommen. Und es ist genau dieser Blick, der gerade eine ganz neue Dynamik in die Geschichtsschreibung rund um die Gründung Liberias bringt. SPRECHER In Washington gräbt sich Burrowes unermüdlich und immer tiefer in die Archive ein. O-TON Burrowes “I was doing research on the founding of Liberia and the secondary sources were available. And the diary or journal kept by Dr. Ayres was published in newspapers of that period. But I really wanted to track down the primary sources, if I could. And having worked with the papers, the collection of the ACS for years, I had come to know that there were three lawyers to whom legal issues were referred by the society. And one of them was Francis Scoot Key. His papers were in MD, and I was living in MD at the time. So I had access. I went through his legal papers but I didn’t find the purchase agreement. There was a second person and he somewhat faded into obscurity. His papers didn’t seem to have been preserved. And the third lawyer was Elias Caldwell who served as the secretary of the society. But it was a voluntary position and it was part-time. His main position was as clerk to the Supreme Court. And he worked with justice Bushrod Washington who was head of the ACS. I went looking for papers of Elias Caldwell and I found that some of his papers were in a collection of Bushrod Washingtons! And it turned out that apparently, he died with some ACS papers in his office at the Supreme Court. They ended up being housed with Bushrod Washingtons papers and the purchase agreement was in it – and the next day I wake up and I wonder is it still true??” Übersetzer 2 „Weil ich jahrelang mit der Sammlung der ACS gearbeitet hatte, wusste ich, dass die ACS drei Anwälte beschäftigt hatte. Einer hieß Elias Caldwell, er war Hauptberuf Gerichtsschreiber am Obersten Gerichtshof. Und als er starb, verblieben einige ACS-Akten in seinem Büro am Obersten Gerichtshof. Am Ende fand ich sie unter Bushrod Washingtons Papieren. Und – da war er: Der Kaufvertrag!! Am nächsten Tag wache ich auf und frage mich, ob ich das nicht alles geträumt habe!“ SPRECHERIN Exakt 200 Jahre nach der Ankunft der ersten Siedler in Westafrika entdeckt er die Nadel im Heuhaufen – das Dokument, das die Geschehnisse von 1822 plötzlich ein einem völlig anderen Licht dastehen lässt: O-TON Burrowes “What unfolded was a series of conferences over several days, about a week. And a number of issues were being discussed: Why do you want this land? How will it benefit us? We want schools, we want our kids to be exposed to the workings of the Western world or the global economy. // But a critical moment came when two people showed up that were living in Freetown. One worked on a slave ship and the other was himself a slave catcher in Sollar(?). And they both came to press on the local rulers that had assembled that they were not to sell this land because if they did, the Americans were abolitionists and they would interfere with their trade. So, the first person, from the slave ship, explained his story: he said Lieutenant Robert Stockton who represented the US Navy had fired on his ship without provocation and then the next speaker, the slave trader began his denunciation of the abolitionist etc. It was at that point that Stockton who had two pistols hidden in his pants, in the back, he carried the pistols for duelling purposes and he had participated in duels before, he pulled out these pistols – none of the other Americans were armed, they had deliberately come on land unarmed to portray a sense of being pacifist – but him being a military person, he had kept his arms. So, he pulled out the pistols and he threw one to Ayres and says: If the slave seller continues to speak, shoot him! Because I need to talk, I want to present myself. And he held the other pistol at the chiefs, the local rulers, and he explained his side: The slave ship had fired on him and he returned fire. He said he wasn’t allowed to interfere with slavers unless they were Americans and that ship was not.” Übersetzer 2 „Die Amerikaner und die Einheimischen treffen sich über mehrere Tage hinweg, etwa eine Woche. Sie diskutieren eine Reihe von Fragen: Warum wollt Ihr dieses Land? Welchen Nutzen haben wir von dem Verkauf? Wir wollen Schulen, wir wollen, dass unsere Kinder lernen, wie die westliche Welt und die globale Wirtschaft funktionieren. Kritisch wird es plötzlich, als zwei Leute aus Freetown auftauchen. Einer arbeitet auf einem Sklavenschiff und der andere als Sklavenfänger. Die beiden wollen verhindern, dass die einheimischen Führer ihr Land verkaufen, weil sie befürchten, dass die Amerikaner als Sklavereigegner ihren Handel stören. Der Händler vom Sklavenschiff behauptet nun, Lieutenant Robert Stockton von der US-Marine, habe ohne Provokation sein Schiff beschossen. Um sich friedfertig zu zeigen, war die amerikanische Delegation unbewaffnet zu dem Treffen gekommen. Nur Stockton trägt für Duellzwecke immer zwei Pistolen bei sich. Er zieht also die beiden Pistolen und sagt: „Wenn der Sklavenhändler weiterspricht, erschieße ich ihn! Ich will, dass Ihr mich anhört.“ Er richtet die andere Pistole auf die Häuptlinge und erzählt seine Version der Geschehnisse: Das Sklavenschiff habe auf ihn geschossen und er habe das Feuer nur erwidert. Und er beteuert, dass er sich gar nicht in den Sklavenhandel einmischen darf, es sei denn, es geht um ein amerikanisches Schiff.“ SPRECHERIN Die Verhandlungen enden kurz darauf. Die Stammesführer kündigen an, dass sie den Amerikanern am kommenden Tag ihre Entscheidung mitteilen werden. Und tatsächlich: Am folgenden Morgen stimmen sie dem Verkauf zu. O-TON Burrowes “So, the image that has developed over time, of people signing a contract a with the pistol to their heads was not really accurate. To characterize the sale as being done under duress, when… - the signing took place a day later – it’s problematic to me, it is inaccurate. Furthermore, writing history it is important to look at the context. What preceded and what follows. And really what follows the sale of Cape Mesurado are a series of other sales, other tracks of land. And they were sold by five of the six who signed the original contract. So, again this suggests that there was an ongoing understanding and agreement and relationship between local rulers and the Americans who had come to this area.” Übersetzer 2 „Es stimmt also nicht, was jahrelang als historische Tatsache hingestellt wurde. Den Verkauf als Zwangsverkauf zu charakterisieren, wenn die Unterzeichnung einen Tag später stattfand, ist unlogisch. In der Geschichtswissenschaft ist es wichtig, auf den Kontext zu achten: Was auf den Verkauf von Cape Mesurado folgt, ist nämlich der Verkauf von anderen Grundstücken. Und die wurden von fünf der sechs Einheimischen verkauft, die den ursprünglichen Vertrag unterzeichnet hatten. Auch das deutet darauf hin, dass es ein gutes Einvernehmen gab zwischen den lokalen Herrschern und den Amerikanern.“ SPRECHER Das Land am Kap Mesurado nennen sie Liberia, das Land für freie Schwarze. Die Hauptstadt erhält den Namen des amtierenden amerikanischen Präsidenten James Monroe. Sie heißt: Monrovia. MUSIK SPRECHERIN Gleichzeitig rekrutiert die ACS in den Vereinigten Staaten unermüdlich weiter. Sie holt sogar ein paar Auswanderer zurück, damit sie für Liberia werben. SPRECHER Manche Weiße lassen einzelne ihrer Sklaven ziehen. Die Sklavenhalter, sagt Eric Burin, haben dabei unterschiedliche Motive. O-TON “One thing worthwhile considering is why people liberate persons. Sometimes they do it out of a sense of guilt, sometimes they have perhaps a special relationship like a familial relationship with an enslaved person. But liberating slaves could also be a way of eliciting dutifulness or obedience from enslaved workers, right? You dangle the carrot of freedom in front of some enslaved workers in the hope that they will do what you ask them to do.” Übersetzer 1 „Einige tun das aus Schuldgefühlen, andere wollen nicht, dass ihre eigenen, illegitimen Kinder in Gefangenschaft aufwachsen. Aber die Befreiung einzelner Sklaven ist auch eine Methode, um andere Sklaven gefügig zu machen. Sie halten die Karotte der Freiheit vor sie hin, in der Hoffnung, dass die dann weiter das tun, was von ihnen verlangt wird.“ SPRECHERIN Gleichzeitig bangen viele Weiße um ihre Existenzgrundlage. Was passiert mit ihren Plantagen und in ihren Haushalten, wenn die Arbeitskräfte nicht mehr parieren oder gar nicht mehr verfügbar sind? Was weitere Unruhe schafft: Sobald Nachbarn einzelne Sklaven freilassen, wirkt sich das auf die ganze Community aus. Historische Quellen zeigen: Die Freigelassen wollen nicht allein auswandern, sie bestehen darauf, ihre Familien mitzunehmen. Häufig aber leben andere Familienmitglieder – weil sie weiterverkauft wurden – in anderen Haushalten, bei anderen Sklavenhaltern. SPRECHER Auch hier zeigt sich, was Burrowes bereits über den Land-Deal in Westafrika gesagt hat: Die schwarze Bevölkerung – ob versklavt oder frei – ist jederzeit aktiv beteiligt und nutzt ganz bewusst ihre Ressourcen. Marie Stango kann das aus ihrer Forschung bestätigen. O-Ton Stango “Liberia, in the early years suffers from famine, these settlers suffer from Malaria, Yellow Fewer, and really many of them are incredibly poor. Because they have been enslaved people in the US, they didn’t have capital or wealth before migrating. So they are really invested in maintaining some of these networks. In some cases as trading partners. So Lott Carry does this with some VA tobacco merchants. He has a business where he is trading tobacco with them. And then for people like the Skipwiths from VA: they are asking for material supplies and food, because their lives are so precarious in Liberia. “ Übersetzerin „Viele Siedler hatten vor der Migration kein Vermögen. Sie halten deshalb frühere Netzwerke aufrecht – das sehe ich in entsprechenden Briefen in den Archiven. Manchmal werden sie sogar Handelspartner. Der Siedler und Tabakfabrikant Lott Carry handelt mit Tabakunternehmern in Virginia. Und dann gibt es Menschen wie die Familie Skipwith aus Virginia: Sie bittet ihre ehemaligen Sklavenhalter um materielle Versorgung und Lebensmittel, weil ihr Leben in Liberia so prekär ist.“ MUSIK SPRECHERIN Und dann passiert trotz der Existenznöte in den Anfangszeiten der Kolonialisierung etwas Erstaunliches: Die Siedler, die ab 1822 ans Kap Mesurado kommen, bringen das amerikanische Gesellschaftsmodell mit nach Afrika. Nur, dass die amerikanischen Schwarzen dieses Mal nicht am unteren Ende der Gesellschaft stehen, sondern oben. SPRECHER Alte Fotos zeigen amerikanische Siedler in westlicher Kleidung, ihre Haut deutlich heller als die der Einheimischen. Die Ironie dabei: Eben diese helle Hautfarbe ist ein körperlicher Beleg für die Gewalt, die Sklaven in den USA erlitten haben. Sklavinnen wurden von ihren Eigentümern so regelmäßig vergewaltigt, dass die Sklavenpopulation mit der Zeit immer hellhäutiger wurde. Und jetzt beanspruchen diejenigen, die in der Heimat aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert und ausgebeutet wurden, wegen ihrer helleren Hautfarbe in Afrika einen höheren gesellschaftlichen Status? Für die ACS sind diese Entwicklungen unwichtig. O-TON CMT „Natürlich war Colorism Teil dieser gesellschaftlichen Schichtungen, aber schnell danach sind wirtschaftliche Unterschiede fast wichtiger geworden. Es gab Leute, die mit Geld angekommen sind und es gab andere, die sich sofort Arbeit suchen mussten.“ O-TON Burrowes “I am very familiar with this narrative where African Americans returned and they constructed a society very much like the one they had left behind in the US. They had dominated indigenous groups etc. etc., but I would say to you that this version of Liberian history emerged in the 1950s, 1960s and now it is entrenched. The idea that the Civil War which took place in the 1990s, early 2000s can be explained by the founding of Liberia for me its problematic. Because it means that you jump over all of the proximal causes, events that are more closely related, that occurred shortly before the Civil War, 5, 10, 20 years before, and you go back 200 years to say: This is why there was a war! Who does that? How can you use history in such a way! It is to me unacceptable. But it has become common. It is a lazy way of understanding the Liberian condition! It’s linked to a refusal to critique the behaviour of people who are living today, people who are architects of the war! “So it’s not our fault, it’s people 200 years ago who caused us to do this”… Doesn’t make sense to me.“ Übersetzer 2 „Ich kenne dieses Narrativ sehr gut, in dem Afroamerikaner zurückkehrten und eine Gesellschaft aufbauten, die der in den USA zurückgelassenen sehr ähnlich war und dann die indigenen Gruppen unterdrückt haben. Aber diese Version der liberianischen Geschichte tauchte erst in den 1950er und 60er Jahren auf und hat bis heute feste Wurzeln geschlagen. Die Idee, dass der Bürgerkrieg, der in den 1990er, frühen 2000er Jahren stattfand, durch die Gründerzeit Liberias erklärt werden kann, ist für mich problematisch. Denn das bedeutet, dass man über alle anderen Ursachen hinwegsieht, über Ereignisse kurz vor dem Bürgerkrieg – fünf, zehn, 20 Jahre davor – und die viel mehr damit zu tun haben! Stattdessen geht man 200 Jahre zurück und argumentiert: „Deshalb gibt es heute Krieg!“. Das ergibt für mich keinen Sinn.“ SPRECHERIN Spätestens ein Jahrzehnt nach der Atlantiküberquerung der Elizabeth wird den Männern von der ACS klar, dass sie weitere Auswanderer nur dann gewinnen können, wenn sie einen neuen Staat gründen – unter schwarzer Führung. SPRECHER 1847, also 24 Jahre nach der Gründung der Kolonie ist es tatsächlich soweit: Liberia erlangt die Unabhängigkeit – mit einer Verfassung nach amerikanischem Vorbild. MUSIK SPRECHERIN Nach der Staatsgründung kommen immer mehr Immigranten aus Amerika und der Karibik an – am Ende sind es allerdings insgesamt nur 17.000. Und damit hat die American Colonization Society ihr ursprüngliches Ziel – ein Amerika ohne Schwarze zu schaffen – gründlich verfehlt. SPRECHER Die erfolgreiche Ansiedlung von schwarzen Amerikanern in Westafrika dagegen, ist ihr gelungen. MUSIK SPRECHERIN Ein freies Land unter schwarzer Führung – eine schwarze Nation: Wie ein Leuchtfeuer strahlt diese Errungenschaft jetzt in andere Länder aus. Liberia ist die erste Republik in Afrika und – nach Haiti – erst die zweite schwarze Republik weltweit. SPRECHER In einer Zeit, in der sich europäische Länder in Afrika einen Wettlauf liefern, um den Kontinent in Kolonien aufzuteilen und auszubeuten! Wie auch immer diese Diskussion ausgeht – eins ist klar: Nach Burrowes Archivfunden, muss sich die Geschichtsschreibung in Liberia jetzt neu sortieren. O-TON Burrowes “I’m not sure but I am optimistic that a more professional telling of the story, a more disciplined telling of the story will emerge. Of the Liberian story that is, very generally speaking. I am optimistic that we will see a shift in the paradigm.” Übersetzer 2 „Ich bin mir nicht sicher, aber ich bin optimistisch, dass sich ein professionellerer, ein disziplinierterer Umgang mit der liberianischen Geschichte durchsetzen wird. Ich bin zuversichtlich, dass wir bald einen Paradigmenwechsel erleben.“ MUSIK…
Eine Medizin sollte sie unverwundbar machen: Im Maji-Maji-Krieg kämpften afrikanische Völker gegen die deutschen Kolonialherren. Es war ein aussichtsloser Kampf, die Folgen sind bis heute spürbar in Ostafrika. Von Linus Lüring (BR 2019) Credits Autor: Linus Lüring Regie: Rainer Schaller Es sprachen: Hans-Jürgen Stockerl, Hemma Michel, Stefan Wilkening Technik: Adele Kurdziel Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Dr. Felicitas Becker Besonderer Linktipp der Redaktion: WDR: Der Germanwings-Absturz – Zehn Jahre ohne euch Der Germanwings-Absturz reißt im März 2015 riesige Lücken in zahlreiche Familien: 150 Menschen sterben. Wie machen Familien weiter, wenn geliebte Menschen plötzlich fehlen? WDR-Reporterin Justine Rosenkranz hat Angehörige zehn Jahre lang begleitet. ZUM PODCAST Linktipps: phoenix (2023): Bezugspunkte – Der Völkermord an den Nama und Herero Das Forum Demokratie beschäftigt sich in diesem Jahr mit der Schuld die Deutschland auf sich geladen hat. Wie weit ist die Aufarbeitung der Geschichte, wenn es um die Kolonialzeit geht und wie prägt die Erinnerungskultur unsere heutige Identität? JETZT ANSEHEN rbb (2024): Deutscher Kolonialismus – Ein blinder Fleck in der Erinnerungskultur Die deutschen Verbrechen während des Kolonialismus haben in der Erinnerungskultur bisher nur wenig Raum. Dieses Defizit hat auch das Berliner Abgeordnetenhaus erkannt. Ende April wurde ein Erinnerungskonzept vorgestellt, das nun überarbeitet wird. Wie stehen Menschen dazu, die aus afrikanischen Ländern stammen und in Berlin wohnen? Von Wolf Siebert JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ATMO Grillenzirpen Sprecher Der Anfang wirkt harmlos: Es ist der 20. Juli 1905 im Süden von Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania. Eine kleine Gruppe von Männern vom Volk der Matumbi beginnt damit, Baumwollpflanzen auszureißen. Die Plantagen sind für die Afrikaner das Symbol für Fremdherrschaft und Ausbeutung durch die deutsche Kolonialmacht. Sprecherin Seit 1885 haben die Deutschen das Gebiet besetzt. Damit soll jetzt Schluss sein. Was aussieht wie ein bloßer Streik, ist allerdings eine lange vorbereitete Kriegserklärung. So beginnt der Maji-Maji-Krieg, der bis dahin größte antikoloniale Befreiungskrieg in Afrika. Sprecher Als der Statthalter der Deutschen von den Vorfällen auf der Baumwollplantage hört, schickt er sofort einige Ordnungskräfte, um die Lage in den Griff zu bekommen. Aber die haben gegen die Übermacht der afrikanischen Kämpfer keine Chance und werden davongejagt. Kurze Zeit später überrennen die afrikanischen Krieger auch den Amtssitz des deutschen Statthalters. Auch er muss fliehen. Wenig später wird der deutsche Plantagenbesitzer Hopfer umgebracht. Sprecher Trotzdem ahnen die Deutschen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was da auf sie zukommen wird. Felicitas Becker, Professorin für afrikanische Geschichte an der Universität Gent: O-Ton Becker 1 Die Deutschen hatten glaub ich wirklich keine Ahnung. Das hat zu tun damit, weil die Deutschen eh nicht viel wussten. Die paar Hämpfe da im Land, was die Leute so sagten und dachten. Es hat auch damit zu tun, dass gerade die Gegend wo der Maji-Maji-Krieg anfing eigentlich galt als bewohnt von, sagen wir mal, dumm-harmlosen Menschen. Es wurde ja sehr rassistisch gedacht. Und es gab bestimmte Ethnien, die galten als kriegerisch und es gab andere Ethnien, die galten als nicht kriegerisch. Und die Leute, die da wohnten, die galten als nun überhaupt nicht waffenfähig und die waren auch wirklich bei Kriegen, die es in der Gegend im 19. Jahrhundert gab, eigentlich immer auf der Seite der Verlierer gewesen. ATMO Trommel und Rufe Sprecher Aber jetzt sind die Einheimischen wild entschlossen. Sie fühlen sich stark wie nie, ja sogar unverwundbar. Dank dem Maji, einer Wundermedizin, sollen die Kugeln der Deutschen an ihnen einfach abprallen. „Maji“ bedeutet auf Swaheli „Wasser“, und das war auch die Grundlage der Medizin, zusammen mit gekochter Hirse. Sprecherin Etwa ein Jahr vor dem Ausbruch des Krieges hatte ein Mann namens Kinjikitile die Maji-Medizin erfunden. Eine eindrucksvolle Erscheinung soll er gewesen sein - groß mit langen Haaren und stets ganz in weiß gekleidet. O-Ton Becker 2 Kinjikitile war von Beruf ein Heiler, also ein Experte in traditioneller Medizin. Und das waren Menschen, die eigentlich immer eine starke Beziehung hatten zu Geistern, spirits, also Gottheiten, die in der Regel irgendwo in Natur verortet waren. Bei Kinjikitile war das ein bestimmter Teich, einer Verbreiterung in einem Fluss, wo er in der Nähe von wohnte. Und es gibt dann Beschreibungen davon, dass er eine Vision hatte. Er wurde entführt von Geist. Er verbrachte mehrere Stunden unter Wasser und kam dann zurück mit diesem neuen Programm. Sprecher Anschließend verkündete Kinjikitile seine Vision und warb dabei für die Maji-Medizin. Die Botschaft muss sich in der Region rasant verbreitet haben: Denn Maji sollte nicht nur unverwundbar machen im Kampf gegen die Deutschen. Mehr noch: Auch die Ernten sollten gut und wilde Tiere zahm werden. Manche tranken das Maji, andere schütteten es sich über den Kopf. Es wurde zu einer Art Allheilmittel für tausende von Menschen. O-Ton Becker 3 Kinjikitile ist eine sehr interessante Figur. Und es ist klar, dass seine Leistung genau die war, Ideen, die schon lang bestanden, neu zu kombinieren und in eine Form zu bringen, in der sie brauchbar waren als Reaktion auf eine noch nie dagewesene Situation. Sprecher Denn nie zuvor waren die Menschen in der Region so bedroht, wie durch die deutsche Kolonialherrschaft. Kinjikitile empfing immer häufiger Vertreter der unterschiedlichsten Volksgruppen und überreicht ihnen in ausgedehnten Zeremonien das Maji. Sprecherin Das Besondere: Kinjikitile organisierte dabei auch regelrechte militärische Trainingseinheiten - eine gezielte Vorbereitung auf den Kampf. Völker, die bisher nichts miteinander zu tun hatten oder sogar verfeindet waren, verbündeten sich: Eine bis dahin ungeahnte Entwicklung. MUSIK Sprecher Die Botschaft vom beginnenden Aufstand mobilisiert die Massen. Mit dem Schlachtruf “Maji!” stürzen sich die Krieger in den Kampf gegen die Deutschen. So bekommt der Konflikt auch seinen Namen – „Maji-Maji-Krieg“. Hunderte Kämpfer überrennen und plündern die Küstenstadt Sangawa. In Liwale erobern die Krieger auch die erste Festung der Deutschen. Mit Brandpfeilen attackieren die Kämpfer die Gebäude. Ein deutscher Offizier, Siedler und afrikanische Hilfssoldaten werden getötet. Diese raschen Erfolge Mitte 1905 und der Glaube an das Maji beflügeln die afrikanischen Kämpfer regelrecht. Sprecherin Die Deutschen Kolonialisten dagegen sind geschockt. Für sie kommt die Erhebung zu einem extrem ungünstigen Zeitpunkt. Die Kolonialverwaltung steht bereits unter enormem Druck. Denn seit längerem wächst die Kritik im Deutschen Reich am teuren Kolonial-Abenteuer. Der Grund: Die versprochenen Gewinne bleiben aus, stattdessen sind die Kolonien ein enormes Zuschussgeschäft. O-Ton Becker 4 Es gab in Deutschland und auch sonst in Europa eine sehr naive Annahme, dass es ganz einfach sei, tropische Kolonien profitabel zu machen. Da ist es so schön warm, da wächst doch alles. Die Leute liegen sowieso auf der faulen Haut. Man muss sie nur endlich zum Arbeiten bringen. Und das war natürlich eine totale Fehlkalkulation. Tatsächlich ist es so, dass tropische Landwirtschaft vielen, vielen Herausforderungen gegenübersteht und gerade Arbeitskräftemangel ein ständiges Problem ist. Das Land war ja wahnsinnig gering bevölkert. Und nachdem sich dann verschiedene Versuche, durch die Einführung neuer landwirtschaftlicher Produkte in dem Land Gewinne zu machen, als Holzweg herausstellten, verfiel man eben auf Zwangsarbeit in Baumwollfeldern. ATMO Grillenzirpen Sprecher Mit aller Macht versuchten die Deutschen, möglichst viel Profit aus der Kolonie herauszupressen - ohne Rücksicht auf die Bevölkerung. Prügelstrafen und überlange Arbeitstage waren an der Tagesordnung. Mit dem Amtsantritt des neuen Gouverneurs der Kolonie, Gustav Adolf Graf von Götzen, verschärfte sich die Lage nochmals. Anfang des Jahres 1905 verfügte er eine drastische Steuererhöhung und außerdem wurde immer mehr Land enteignet. Es wurde für die immer größeren Plantagen gebraucht. Unter den Einheimischen staute sich die Wut an. Dieses Gefühl griff Kinjikitile auf und versprach eine Lösung. Sein Maji sollte der Ausbeutung ein Ende bereiten! Sprecherin Allerdings gelingt es den Deutschen, ihn als Hauptverantwortlichen hinter dem Aufstand auszumachen. Kinjikitile wird mit anderen festgenommen und wenige Wochen nach dem Beginn des Maji-Maji-Krieges hingerichtet - bis zum Schluss soll er überzeugt gewesen sein von seiner Vision. So hält es Gouverneur von Götzen in seinen Erinnerungen fest. Zitator Der Ältere der Verurteilten, der Oberzauberer, sollte nun kurz vor seiner Exekution geäußert haben, er fürchte sich nicht vor dem Tode. Seine Hinrichtung werde auch nichts mehr nützen, denn seine Medizin habe schon bis nach Kilossa und Mahenge hin ihre Wirkung getan. Trotz der bekannten Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod und ihrer Neigung zum Renommieren, durfte diese fast triumphierende Warnung nicht leichtgenommen werden. Angesichts der Gesamtlage war Vorsicht geboten. Sprecherin Die Ahnung soll sich bestätigen. Im August 1905 folgt beinahe täglich eine größere Attacke auf Stationen und Siedlungen der deutschen Kolonialherren. 10.000 Kämpfer greifen die größte Militärstation der Gegend in Mahenge an. An diesen Angriff erinnert sich der deutsche Feldarzt Wilhelm Arning später so: Zitator Sie sind mit einer Einigkeit und Entschlossenheit in den Aufstand von 1905 eingetreten, die erstaunlich ist und fast Bewunderung erwecken könnte. Zu vielen Tausenden fanden sie sich aus der Ebene und von den Bergen zusammen, um die verhasste Station niederzuwerfen. Sie gaben ein für die deutsch-ostafrikanische Kriegsgeschichte unerhörtes, kaum für möglich gehaltenes Beispiel, indem sie einen großen, gut gebauten und stark besetzten festen Platz mit stürmischer Hand zu nehmen versuchten. Sprecherin Der Angriff kann von den Deutschen schließlich gerade noch abgewehrt werden. Dabei wird eines immer deutlicher: Das zentrale Versprechen des Maji wirkt nicht - nämlich, dass es unverwundbar macht. Unzählige afrikanische Angreifer sterben im Kugelhagel der deutschen Truppen. Ein deutscher Kommandant beschreibt in seinem Tagebuch “Berge von toten Afrikanern”. Sprecher Aber der Glaube an das Maji lebt trotzdem noch weiter. Denn, damit das Maji wirkt, mussten bestimmte Vorgaben eingehalten werden - sexuelle Enthaltsamkeit zum Beispiel. Aber auch manche Speisen waren Tabu, wie Historikerin Felicitas Becker erklärt: O-Ton Becker 5 Und wenn dann welche erschossen wurden, dann war es für die Boten des Maji, bekannt unter dem Namen Hongo, relativ einfach zu sagen - naja die haben irgendwas falsch gemacht. Und als sich dann schnell herausstellte, dass das Maji nicht wirksam war, kam es auch dazu, dass dann neue Runden Maji gekocht oder geschickt wurden und dann wurde, das ist jetzt besser. Oder es wurden neue Tabus hinzugefügt und auf diese Weise konnte die Glaubwürdigkeit des Maji mehrmals erneuert werden. Sprecher So breiten sich die Kämpfe immer weiter aus. Bereits zwei Monate nach dem Beginn des Maji-Maji-Kriegs, hat dieser seine größte Ausdehnung erreicht: Die komplette Südhälfte der Kolonie Deutsch-Ostafrika ist betroffen, ein Gebiet etwa so groß wie die Bundesrepublik Deutschland. Sprecherin Der deutschen Kolonialverwaltung fehlt es schlicht an Personal, um sich den Kämpfern wirkungsvoll entgegenzustellen und nicht nur Verwaltungsstationen zu verteidigen. Bei Gouverneur von Götzen macht sich Verzweiflung breit. Zitator Es wurde bereits angedeutet, daß der Sparsamkeitsdrang des Mutterlandes den Gouverneur von Deutsch-Ostafrika vor eine in gewissen Fällen unlösbare Aufgabe stellt. Diese Aufgabe bestand im Jahre 1905 in kurzen Worten darin, eine Million Quadratkilometer Landes mit beträchtlichen darin investierten europäischen Werten zu sichern. Sprecherin Die koloniale Armee der Deutschen ist zahlenmäßig völlig unterlegen. Die sogenannte “Schutztruppe” umfasst nicht mal 4500 Mann. Dabei sind nur die Offiziere Deutsche. Die meisten Soldaten sind Afrikaner, die sogenannten Askaris. Söldner, die vor allem im Sudan angeworben worden waren. Verzweifelt bittet Gouverneur von Götzen die Führung des Deutschen Reichs um Unterstützung. Sprecher Allerdings gilt deren Aufmerksamkeit gerade eher Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Dort haben sich die Herero und die Nama erhoben. Hier ist das Deutsche Reich bereits in einen langwierigen Kampf verwickelt. Dennoch: Schließlich wird Verstärkung bewilligt. Aber die Verlegung deutscher Marinesoldaten braucht Zeit, ebenso die Anwerbung neuer Askari. Erst im Oktober 1905 trifft die Verstärkung ein. Sprecherin Nun gehen die deutschen Truppen in die Offensive. In sogenannten “Straf-Expeditionen” folgen sie den Maji-Maji-Kämpfern. Es kommt nicht selten zu regelrechten Massakern. Weit weg von der Kolonialverwaltung in Daressalam fühlen sich die Offiziere ohne Kontrolle. Ihre Brutalität kennt daher oft kaum Grenzen. Besonders verheerend ist dabei eine Waffe: Das Maschinengewehr, die sogenannte „Gatling gun“. O-Ton Becker 6 Da gibt es wieder einen schönen englischen Reim: “Whatever happens, we have got the Gatling gun and they have not.” Sprecherin Egal was passiert – wir haben das Gatling-Maschinengewehr, sie haben es nicht. Sprecher Die afrikanischen Krieger sind mit ihren Pfeilen, Speeren und anderen veralteten Wurfgeschossen ohne jede Chance - auch wenn sie zu tausenden angreifen. In Schlachten auf offenem Feld werden sie regelrecht niedergemäht. Spätestens jetzt verlieren die meisten den Glauben an die übernatürlichen Kräfte des Maji. Dennoch setzen Maji-Maji-Kämpfer den Krieg fort, meiden allerdings jetzt größere Feldschlachten. Sprecherin Der Maji-Maji-Krieg tritt in eine neue Phase ein. Die afrikanischen Kämpfer setzen stattdessen setzen sie auf Guerilla-Taktiken. Sie kennen sich im Gelände besser aus und versuchen den Truppen der Deutschen aufzulauern und sie in Hinterhalte zu locken. Zwar können sie den Feind immer wieder überraschen. Aber nachhaltig stoppen können sie die Kolonialtruppen nicht. Auch nicht, indem sie immer wieder Telegraphenleitungen zerstören, die die Deutschen zur Kommunikation dringend brauchen. Sprecher Dazu kommt - da so viele unterschiedliche Völker beteiligt sind, gibt es keine einheitliche Strategie unter den Maji-Maji-Kämpfern, keine Absprachen, kein gemeinsames Vorgehen. O-Ton Becker 7 Es gab die, die dann einfach mit dem Mut der Verzweiflung weitergekämpft haben. Das war zum Beispiel der Fall bei den Ngoni. Obwohl auch die ziemlich am Anfang ihrer Kampagne sozusagen eine Attacke durch deutsche Maschinengewehre katastrophal verloren und dadurch wurde ihre strategische Einheit zerstört und sie kämpften dann eben in kleinen Gruppen weiter. Es gab auch die, die ziemlich schnell aufgaben. Aber das Problem ist, die Deutschen erkannten ihrerseits unter den Aufständischen überhaupt keine legitimen Herrschaftsstrukturen mehr an. Sprecher Der Maji-Maji-Krieg wird gegen Ende des Jahres 1905 unübersichtlich. In dem oft gebirgigen Gelände entwickelt sich immer häufiger ein Kleinkrieg. Wirkliche Gebietsgewinne gibt es bei vielen Angriffen nicht. Auch die Deutschen wechseln deshalb ihre Taktik und hinterlassen, wo sie können, “verbrannte Erde”. Gouverneur Gustav Adolf von Götzen rechtfertigt das Tun der Schutztruppe später. Zitator Wie in allen Kriegen gegen unzivilisierte Völkerschaften, sei es nun in Marokko oder in Java oder im tropischen Afrika, war auch im vorliegenden Fall die planmäßige Schädigung der feindlichen Bevölkerung an Hab und Gut unerläßlich. Die Vernichtung von wirtschaftlichen Werten, wie das Abbrennen von Ortschaften und Lebensmittel-Beständen, erscheint wohl dem Fernstehenden barbarisch. Vergegenwärtigt man sich aber einerseits, in wie kurzer Zeit afrikanische Hütten wieder entstehen und wie rasch die Üppigkeit der tropischen Natur neue Feldfrüchte hervorbringt, andererseits, daß in den meisten Fällen, wie auch dieser Aufstand bewiesen hat, ein solches Vorgehen einzig und allein den Gegner zur Unterwerfung zu zwingen vermag, dann wird man zu einer milderen Auffassung gelangen. Sprecherin Was Gouverneur von Götzen hier zu verharmlosen versucht und als alternativlos beschreibt, wird später dramatische Folgen für die Bevölkerung haben. Überall im Aufstandsgebiet werden nun Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, Vorratskammern zerstört und Brunnen vergiftet. Diese Drecksarbeit überlassen deutsche Offiziere afrikanischen Hilfstruppen, den sogenannten Rugaruga. Sprecher Zwar haben sich immer mehr kämpfende Volksgruppen ergeben, aber auch zu diesem Zeitpunkt gibt es noch Widerstand. Das Elend wird immer größer und die Deutschen wissen, dass sie jetzt eigentlich nur noch abwarten müssen, wie Gouverneur von Götzen einmal in seinem Tagebuch notiert. Zitator Major Johannes ist heute aus den Matumbi-Bergen zurückgekehrt. Er hat die Auffassung mitgebracht, dass die Unterwerfung der Aufständischen dort noch lange Zeit in Anspruch nehmen dürfte. Da die Kulturen überall vernichtet sind, kann aber die Truppe darauf rechnen, dass der Hunger das Seine zur Beschleunigung tun wird. Eine unvermeidliche und traurige Aussicht, wenn man bedenkt, dass diese Wunden nicht Feindesland, sondern der eigenen, vielen schon zur Heimat gewordenen Erde geschlagen werden! Sprecher Die Deutschen machen keinen Unterschied zwischen Aufständischen und Zivilisten, erklärt Historikerin Felicitas Becker. O-Ton Becker 8 Männer, Frauen, Kinder, Alte. Alle galten dann als legitimes Ziel. Und das zog sich hin über viele Monate. Sodass, obwohl die größten Kampfhandlungen des Krieges Mitte 1906 dann vorbei waren, die größte Hungersnot, die der Krieg auslöste, erst Ende 1907 stattfand. Der größte Anteil der Menschen, die durch Maji-Maji gestorben sind, starb an Hunger. Sprecherin Missionare berichten von einer gespenstischen Stimmung in den menschenleeren Gegenden, von Verwesungsgestank und Seuchen, die sich ausbreiten. “Es ist kein frohes Leben mehr zu beobachten. Nicht einmal mehr unter der sonst so lustigen Jugend”, heißt es in einem Bericht. Sprecher Erst Mitte 1908 ergeben sich dann die letzten Maji-Kämpfer. Drei Jahre nach dem Ausbruch des Krieges. Die Einheimischen müssen sich der deutschen Übermacht ergeben. O-Ton Becker 9 Einer der bekanntesten Historiker der Gegend weist auch darauf hin, dass die Menschen im Aufstandsgebiet auch eine Schlacht gegen die Natur verloren hätten. Darüber gibt es viele Berichte. Nach dem Ende von Maji-Maji wurden Elefanten gesehen in Gegenden, wo sie schon verdrängt gewesen waren. Und es gibt auch Berichte darüber, dass die Löwen zum Teil dann in die erbärmlich gebauten Hütten der Überlebenden eindrangen und die Menschen in den Häusern verschlangen, weil die so geschwächt waren, dass sie Abwehr der Löwen nicht mehr organisieren konnten. Sprecher Über die Gesamtzahl der Opfer im Aufstandsgebiet gibt es sehr unterschiedliche Schätzungen. O-Ton Becker 10 Wie viele genau, das ist schwer zu sagen, weil man so wenig drüber weiß, wie viele Menschen vorher da waren. Aber 200.000 ist so `ne Zahl, die oft genannt wird. MUSIK Sprecher Wie ungleich der Krieg war, wird klar, wenn man diese Zahl mit den Opferzahlen auf der Seite der deutschen Kolonisatoren vergleicht - zwar sollen mehr als 1000 der afrikanischen Hilfssoldaten der deutschen Kolonialtruppen gestorben sein - aber gerade mal 15 Europäer starben durch die Kämpfe. Sprecherin Nachdem der Krieg beendet ist, beginnt in den Aufstandsgebieten ein langwieriger Wiederaufbau. Erst nach Jahren ist die Landwirtschaft wiederhergestellt und die Menschen kehren mehr und mehr zurück in den Süden der Kolonie. Sprecher In den folgenden Jahrzehnten verschwindet der Maji-Maji-Krieg aus den öffentlichen Debatten. Die verheerende Not, die Massaker durch die Deutschen - daran möchte niemand erinnert werden. Ähnliche Widerstandsbewegungen gibt es in den folgenden Jahrzehnten nicht mehr. Weder gegen die deutschen noch - nach dem Ersten Weltkrieg - gegen die britischen Kolonialisten. Sprecherin Erst in den 1950er-Jahren ändert sich das schlagartig. Die Unabhängigkeitsbestrebungen in der Region werden lauter. Dabei erinnern sich viele wieder an den Maji-Maji-Krieg. Der völkerübergreifende Charakter des Widerstands wird immer wieder betont. Darin habe sich bereits ein gewisses Nationalgefühl angedeutet, erklärt zum Beispiel Julius Nyerere, einer der führenden Köpfe der Unabhängigkeitsbewegung. Er wird später auch der erste Staatspräsident Tansanias. Nicht mehr Not und Elend sollten bei der Erinnerung an den Maji-Maji-Krieg im Mittelpunkt stehen, sondern Stolz auf den Widerstandsgeist und die Hoffnung auf Selbstbestimmung. Sprecher Gleichzeitig stößt die Unabhängigkeitsbewegung, die sich in der Tradition der Maji-Bewegung sieht, im ehemaligen Aufstandsgebiet auf große Skepsis. Vor allem ältere Menschen, die den Krieg noch erlebt haben, befürchten, dass es wieder zu einem Blutvergießen kommen könnte. Die Sorgen sind unbegründet: 1961 wurde Tansania unabhängig - völlig friedlich. Sprecherin Und im heutigen Tansania? Da ist die Erinnerung an den Maji-Maji-Krieg nicht unbedingt gerne gesehen. O-Ton Becker 11 Es ist ja so, dass derzeit das politischen Klima in Tansania eigentlich auch eher repressiver wird und die Vorstellung von spontanem Protest ist auch den postkolonialen tansanischen Politikern nicht unbedingt willkommen. Man will spontane anführerlose, soziale Proteste als solche eigentlich nicht feiern. Sprecher Dahinter steht die Sorge, dass sich eine Widerstandsbewegung jetzt nicht mehr gegen Kolonialherren richtet, sondern gegen die Regierung. Obwohl der Maji-Maji-Krieg einer der großen antikolonialen Befreiungskämpfe in Afrika war, droht er so weiter in Vergessenheit zu geraten.…
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Kaum ein Ereignis der deutschen Geschichte wurde in den letzten 200 Jahren derart unter ideologischen Vorzeichen interpretiert wie der Bauernkrieg. Mit seinem Ende begann der Kampf um die Deutung. Von Stefan Nölke (MDR/BR/SWR 2025) *** PEN & PAPER-Rollenspiel zum Bauernkrieg Aus einer anderen Perspektive auf die Ereignisse um 1525 kann man im improvisierten Live Rollenspiel "1525 Wenn Worte brennen" blicken. In dem fiktiven Dorf Schillingsfurt in Franken versucht eine Truppe aus einem rebellischen Mönch, einer radikalen Papiermacherin und einem kampfbereiten Bauern die Revolution selbst in die Hand zu nehmen. Hier geht es zum ersten Teil 1: http://1.ard.de/1525-wenn-worte-brennen *** PODCAST-TIPP: Der Rest ist Geschichte Hört doch auch mal bei "Der Rest ist Geschichte" rein. Unsere Kollegen vom Deutschlandfunk greifen jede Woche ein aktuelles Thema auf und erklären die historischen Hintergründe. https://www.deutschlandfunk.de/deutschlandfunk-der-rest-ist-geschichte-100.html *** CREDITS Autor: Stefan Nölke Es sprachen: Meike Rötzer - und: Udo Rau, Rudolf Guckelsberger, Marcus Westhoff, Janis Hanenberg, Elisabeth Findeis Regie: Günter Maurer Technik: Claudia Peycke Musik: Matthias Schneider-Hollek Grafik: Martin Pfeiffer, Christiane Jäger Distribution: Mara May, Theresa Wünsch Redaktion: Thomas Morawetz, Nicole Ruchlak, Stefan Nölke, Gabor Paal Eine Gemeinschaftsproduktion des MDR, BR und SWR *** Vielen Dank an die Gesprächspartnerinnen und -partner: Dr. Christoph Engelhard, Stadtarchivar und Vorsitzender des Historischen Vereins Memmingen Bernhard Geisler, Heimatforscher und Vorsitzender der Gruppe Historisches und Kulturelle Königshofen Dr. Nora Hilgert, Historikerin, Fachreferentin Kulturgeschichte, Mühlhäuser Museen Dr. Ulrich Hahnemann, Stadtarchivar und Leiter des Regionalmuseums Bad Frankenhausen Stephen Jüngling, Kastellan auf der Festung Marienberg Prof. Dr. Thomas Kaufmann, Theologe und Kirchenhistoriker, Universität Göttingen Nicole Lang, Gästeführerin, Weinsberg Prof. Dr. Rainer Leng, Historiker, fränkische Landesgeschichte, Universität Würzburg Gerd Linder, Kunsthistoriker und Direktor des Panorama Museum Bad Frankenhausen Dr. Thomas T. Müller, Historiker, Direktor "Stiftung Luthergedenkstäten in Sachsen-Anhalt, Vorsitzender der Thomas-Müntzer-Gesellschaft Dr. Wolfgang Petz, Historiker und Geschichtsdidaktiker, Kempten Prof. Dr. Lyndal Roper, Historikerin, Universität Oxford Heide Ruszat-Ewig, Literaturwissenschaftlerin, Herausgeberin, Übersetzerin der 12 Artikel von Memmingen ins Hochdeutsche Prof. Dr. Gerd Schwerhoff, Historiker, Geschichte der Frühen Neuzeit, Technische Universität Dresden Herbert Seger, Altbürgermeister und Vorsitzender des Heimatverein Durach im Oberallgäu Christoph Wegele, Vorsitzender des Fördervereins Schloss Waldburg e.V.; Museumsführer auf der Stammburg des Georg Truchsess von Waldburg Lea Wegner, Historikerin und Leiterin "Deutsches Bauernkriegsmuseums" Böblingen (Museum Zehntscheuer) Dr. Helge Wittmann, Fachbereichsleiter Stadtarchiv/Stadtbibliothek Mühlhausen und Vorsitzender des Mühlhäuser Geschichts- und Denkmalpflegeverein…
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Im Sommer 1525 steht es schlecht um die Bauern. Da erscheint ihnen bei Frankenhausen ein Regenbogen. Der charismatische Prediger Thomas Müntzer verheißt daraufhin den Bauern einen großen Sieg. Von Michael Zametzer (MDR/BR/SWR 2025) *** Credits Autor: Michael Zametzer Sprecherin: Meike Rötzer Weitere Sprecher und Sprecherinnen: Udo Rau, Rudolf Guckelsberger, Marcus Westhoff, Janis Hanenberg, Elisabeth Findeis Regie: Günter Maurer Technik: Claudia Peycke Musik: Matthias Schneider-Hollek Graphik: Martin Pfeiffer, Christiane Jäger Distribution: Mara May, Theresa Wünsch Redaktion: Thomas Morawetz, Nicole Ruchlak, Stefan Nölke, Gabor Paal "Das war der Bauernkrieg" ist eine Gemeinschaftsproduktion des MDR, BR und SWR *** Alle Gesprächspartnerinnen und -partner in den Shownotes zu Folge 4. *** PEN & PAPER-Rollenspiel zum Bauernkrieg Aus einer anderen Perspektive auf die Ereignisse um 1525 kann man im improvisierten Live Rollenspiel "1525 Wenn Worte brennen" blicken. In dem fiktiven Dorf Schillingsfurt in Franken versucht eine Truppe aus einem rebellischen Mönch, einer radikalen Papiermacherin und einem kampfbereiten Bauern die Revolution selbst in die Hand zu nehmen. Hier geht es zum ersten Teil 1: http://1.ard.de/1525-wenn-worte-brennen *** PODCAST-TIPP: Tatort Geschichte Bei Tatort Geschichte reisen Niklas Fischer und Hannes Liebrandt zurück zu spannenden Verbrechen aus der Vergangenheit - True Crime aus der Geschichte unterhaltsam besprochen. http://1.ard.de/bauernkrieg-tatort-geschichte *** BUCHTIPPS: Peter Blickle, Der Bauernjörg. Feldherr im Bauernkrieg. Georg Truchsess von Waldburg 1488-1531. C.H. Beck 2015. (Viel mehr als eine Biografie, geschrieben vom 2017 verstorbenen Nestor der Bauernkriegsforschung. Immer noch grundlegend.) Thomas Kaufmann, Der Bauernkrieg. Ein Medienereignis, Verlag Herder 2024. (Ohne Buchdruck kein Bauernkrieg, so die These des renommierten Göttinger Medienhistorikers.) Thomas T. Müller, Mörder ohne Opfer: Die Reichsstadt Mühlhausen und der Bauernkrieg in Thüringen, Michael Imhof Verlag 2021. (Grundlegend für das Geschehen in Thüringen und die Rolle Thomas Müntzers) Lyndal Roper, Für die Freiheit. Der Bauernkrieg 1525. Aus dem Englischen von Holger Fock und Sabine Müller, S. Fischer 2024. (Hinter dem Aufstand steht der Traum für eine bessere Welt, erklärt die gebürtige Australierin und Expertin für die Reformationszeit.) Gerd Schwerhoff, Der Bauernkrieg. Eine wilde Handlung, C.H. Beck 2024. (Nach so viel Parteinahme seitens der Historiker und Historikerinnen für die Sache der Bauern ist dies ein wohltuend distanzierterer, zugleich umfassender Blick auf dem letzten Stand der Forschung.)…
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Der "Bauernjörg" zieht 1525 mit kampferprobten Heeren gegen die Bauernhaufen. Die Aufständischen sind zwar in der Überzahl, aber es fehlt ihnen an militärischer Einigkeit und Erfahrung. Von Michael Zametzer (MDR/BR/SWR 2025) *** Credits Autor: Michael Zametzer Sprecherin: Meike Rötzer Weitere Sprecher und Sprecherinnen: Udo Rau, Rudolf Guckelsberger, Marcus Westhoff, Janis Hanenberg, Elisabeth Findeis Regie: Günter Maurer Technik: Claudia Peycke Musik: Matthias Schneider-Hollek Graphik: Martin Pfeiffer, Christiane Jäger Distribution: Mara May, Theresa Wünsch Redaktion: Thomas Morawetz, Nicole Ruchlak, Stefan Nölke, Gabor Paal Korrigierte Version der ursprünglichen Folge 2, die eine unkorrekte geographische Angabe enthielt. "Das war der Bauernkrieg" ist eine Gemeinschaftsproduktion des MDR, BR und SWR *** Alle Gesprächspartnerinnen und -partner in den Shownotes zu Folge 4, Literaturtipps in den Shownotes zu Folge 3. *** PEN & PAPER-Rollenspiel zum BauernkriegAus einer anderen Perspektive auf die Ereignisse um 1525 kann man im improvisierten Live Rollenspiel "1525 Wenn Worte brennen" blicken. In dem fiktiven Dorf Schillingsfurt in Franken versucht eine Truppe aus einem rebellischen Mönch, einer radikalen Papiermacherin und einem kampfbereiten Bauern die Revolution selbst in die Hand zu nehmen. Hier geht es zum ersten Teil 1: http://1.ard.de/1525-wenn-worte-brennen *** PODCAST-TIPP:ARD Crime Time Im Podcast ARD Crime Time spricht Host Anne Eichhorn mit True Crime-Reporter Sandro Gerber über einen unglaublich erscheinenden Mord-Fall an einer jungen Frau, der über die Grenzen Sachsens hinaus für Aufsehen gesorgt. http://1.ard.de/der_mordende_Radiopraktikant?pb…
Im Sommer 1524 gärt es unter Bauern und einfachen Leuten in weiten Teilen Deutschlands. Sie fordern ein Ende von Leibeigenschaft und drückenden Abgaben. Bald eskaliert die Lage. Von Michael Zametzer (MDR/BR/SWR 2025) *** Credits Autor: Michael Zametzer Sprecherin: Meike Rötzer weitere Sprecher und Sprecherinnen: Udo Rau, Rudolf Guckelsberger, Marcus Westhoff, Janis Hanenberg, Elisabeth Findeis Regie: Günter Maurer Technik: Claudia Peycke Musik: Matthias Schneider-Hollek Graphik: Martin Pfeiffer, Christiane Jäger Distribution: Mara May, Theresa Wünsch Redaktion: Thomas Morawetz, Nicole Ruchlak, Stefan Nölke, Gabor Paal "Das war der Bauernkrieg" ist eine Gemeinschaftsproduktion des MDR, BR und SWR *** Alle Gesprächspartnerinnen und -partner in den Shownotes der Folge 4, Literatur-Tipps in den Shownotes zu Folge 3. *** PEN & PAPER-Rollenspiel zum Bauernkrieg Aus einer anderen Perspektive auf die Ereignisse um 1525 kann man im improvisierten Live Rollenspiel "1525 Wenn Worte brennen" blicken. In dem fiktiven Dorf Schillingsfurt in Franken versucht eine Truppe aus einem rebellischen Mönch, einer radikalen Papiermacherin und einem kampfbereiten Bauern die Revolution selbst in die Hand zu nehmen. Hier geht es zum ersten Teil 1: http://1.ard.de/1525-wenn-worte-brennen *** PODCAST-TIPP: WDR Zeitzeichen Was gestern war, ist lange nicht vorbei: Was Geschichte mit unserem Leben heute zu tun hat, erfahrt Ihr jeden Tag im Zeitzeichen-Podcast. Das alles immer in einer knappen Viertelstunde spannend erzählt. https://1.ard.de/bauernkrieg-zeitzeichen…
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Er war verehrt und gefürchtet. Den Stadtplaner Robert Moses nennt man bis heute den "Master Builder" New Yorks. Er galt als ebenso arrogant wie brillant, als visionär und rücksichtslos. 44 Jahre lang konnte er die Metropole mit gewaltigen und umstrittenen Bauprojekten wie kein anderer im Alleingang formen. Von Florian Kummert (BR 2021) Credits Autor: Florian Kummert Regie: Susi Weichselbaumer Es sprachen: Beate Himmelstoß, Rainer Buck, Sven Hussock Technik: Adele Kurdziel Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Jason Harber Besonderer Linktipp der Redaktion: NDR & mdr: OZ. Graffiti-Künstler. Schmierfink. Rebell. Zwei Jahrzehnte lang geht der Graffiti-Sprayer OZ – bürgerlich Walter Fischer – jede Nacht raus und »macht Hamburg bunter«, wie er sagt – oder, wie andere urteilen: Er verschandelt die Stadt. Immer wieder wird er verprügelt. Und immer wieder verurteilt, insgesamt zu mehr als acht Jahren Gefängnis. Doch OZ macht immer weiter, am Ende stirbt er als Künstler. Was war sein Antrieb? Kai Sieverding und Sven Stillich begeben sich auf die Suche nach dem Menschen hinter der Sprühdose und finden ein Leben, das geprägt ist von Extremen. ZUM PODCAST Linktipps: Deutschlandfunk (2022): Die Sprache von Gebäuden und Städten Wie wird man Architekturkritiker? In den USA hat Alexandra Lange diesem Beruf ein Fundament gebaut mit ihrem Lehrbuch „Schreiben über Architektur“. Wir stellen Auszüge daraus in zwei Sendungen vor. JETZT ANHÖREN ZDF (2024): Weltstädte – New York Für viele ist New York die Stadt der Städte: eine Stadt, die sich hoch in den Himmel schraubt und immer neue Rekorde bricht. Ein wimmelnder Schmelztiegel, der nie zur Ruhe kommt. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK ERZÄHLERIN New York City. Die Stadt der Städte, mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Stadt der Luxusvillen und der Slums. Stadt der atemberaubenden Ausblicke und der stundenlangen Staus. Eine Weltmetropole, wie die belgisch-amerikanische Schriftstellerin Lucy Sante einmal sagte, mit einem zwiespältigen Charakter, durchsetzt von Widersprüchen, anziehend und abstoßend zugleich, so gewaltig und extrem, dass niemand ihn allein ersonnen haben könne. ERZÄHLER Und doch gibt es einen Mann, der diese Stadt formen konnte. Einer, der ihr seinen Stempel aufdrückte und die Landschaft von New York City und Umgebung über Jahrzehnte hinweg modellierte. ERZÄHLERIN Ein Mann, der immense Macht anhäufte, der Bürgermeister und Gouverneure kontrollierte, der das Rampenlicht mied und aus dem Schatten heraus sein New York bauen konnte. Sein Name: Robert Moses. OTON VOICEOVER Jason Haber 1 „He is alive in spirit anyway, because you're on his roads, you're in his traffic. The routes that you take, whether you use Google Maps or just your own intuition, they are plotted by Robert Moses.“ „Sein Geist schwebt bis heute über der Stadt, vor allem auf seinen Straßen, in seinem Verkehr. Die Routen, die wir heute mit oder ohne Navi nehmen, hat Robert Moses vorgeplant.“ ERZÄHLERIN Jason Haber, Autor und früherer Professor für Städteplanung am John Jay College, lebt und arbeitet in New York. Je mehr er sich mit der Geschichte und den städteplanerischen Herausforderungen seiner Heimatstadt auseinandersetzte, desto häufiger stolperte er über einen Namen. OTON VOICEOVER Jason Haber 2 „I was struck by the fact that living on Long Island to the east of New York City and then coming into the city how much of my life’s movement and patterns were directed by a man that I didn't know, that most people didn't know by name and I think didn't realize the implications of what he did and how he did it and when I started asking questions like who created the Long Island Expressway, why Robert Moses, who created this tunnel, this bridge, this road, this park, it always seemed to come back to Moses.“ „Ich bin lange von Long Island östlich der Stadt nach Manhattan gependelt. Dabei ist mir bewusstgeworden, dass für all diese Lebenszeit, für meinen Bewegungsablauf ein Mann verantwortlich ist, dessen Namen viele gar nicht kennen, von dem viele nicht wissen, wie einflussreich er war. Aber als ich recherchiert habe: Wer hat den Long Island Expressway gebaut, wer hat diesen Tunnel, jene Brücke, diese Straße, jenen Park gebaut, dann war die Antwort immer: Moses.“ ERZÄHLERIN Robert Moses war der Bauherr öffentlicher Bauten, und zwar einer der einflussreichsten und mächtigsten des 20. Jahrhunderts. Moses galt als brillant und arrogant, als visionär und rücksichtlos. OTON VOICEOVER Jason Haber 3 „When you talk to people in New York about Robert Moses who aren’t deeply enmeshed in the topic they'll say things like was he the governor? Was he the senator? Was he the mayor? Most people are surprised that he was none of those three. Most notably, Robert Moses was never elected to any public office. In a democracy the way it supposed to work, we have a representative government where the officials who are in power are responsible and have to answer for their decisions or lack of decisions at the ballot box. Moses gets around this entirely and as a result it changes the story of how things evolved here in New York.“ „Wenn ich von Robert Moses und seinem Einfluss erzähle, werde ich oft gefragt: War er Gouverneur? War er Senator? War er der Bürgermeister? Und die Antwort überrascht die Leute: Er war nichts davon. Robert Moses wurde nie in ein öffentliches Amt gewählt. Dabei sollte es in einer Demokratie doch anders laufen. Wir haben eine repräsentative Regierung, in der die Machthaber sich vor den Wählern verantworten müssen, und auch abgewählt werden können. Moses umgeht dieses System komplett und verändert so den Werdegang von New York.“ ERZÄHLERIN Jason Haber ist ein ausgesprochener Kritiker von Robert Moses und dessen städteplanerischen Visionen und Machtpolitik. ERZÄHLER Damit folgt er dem Gros der öffentlichen Meinung, die in den USA vor allem von einem Buch und der Rechercheleistung seines Autors geprägt wurde: „The Power Broker“ von Robert A. Caro. Eine über 1200 Seiten umfassende, mit dem Pulitzer Preis prämierte Mischung aus Biographie und Stadtgeschichte. Caros 1974 erschienenes Buch geht dem Leben und Werk von Robert Moses nach und - wie es im Untertitel heißt - dem „Niedergang von New York“. „The Power Broker“ zählt an der New Yorker Columbia Universität bis heute zur Pflichtlektüre und gilt als eines der wichtigsten stadtgeschichtlichen Bücher des 20. Jahrhunderts. MUSIK ERZÄHLER Robert A. Caros Buch versucht, Robert Moses zu enträtseln. Wer ist dieser Mann, der 44 Jahre als Oberster Baumeister von New York das Bild der Stadt bestimmt. Der „Master Builder“, der kaum einen Bereich unberührt lässt und hunderte Meilen an Parkways und Stadtautobahnen schafft, ebenso hunderte von Parks, Spielplätzen und öffentlichen Stränden, der Brücken und Tunnel bauen und Viertel niederreißen lässt und hunderttausende Sozialwohnungen errichtet. Von den 1920er bis in die 1970er Jahre hinein macht Robert Moses seinen Einfluss geltend, in den fünf so genannten „Boroughs“, den fünf großen Verwaltungsbezirken der Stadt: Manhattan, Brooklyn, Queens, Bronx und Staten Island. ATMO Autos, Hupen ERZÄHLER Robert Moses baut knapp 700 Kilometer an Straßen für die New Yorker, aber er selbst lernt Zeit seines Lebens nie ein Auto zu fahren. Da er ebenso die öffentlichen Verkehrsmittel meidet, lässt er sich von einem Chauffeur durch New York kutschieren. ERZÄHLERIN 1888 als Sohn einer wohlhabenden, großbürgerlichen deutsch-jüdischen Familie geboren, steht Robert Moses bereits als Jugendlichem ein Fahrer zur Verfügung. Er wächst in gediegenem Luxus auf, nahe der Fifth Avenue. Und entwickelt sich zu einem ehrgeizigen Schüler, der 1909 in Yale zu den Besten des Abschluss-Jahrgangs gehört, ebenso wie anschließend in Oxford und an der Columbia University. MUSIK ERZÄHLER Ab 1914 arbeitet er im öffentlichen Dienst und findet dabei einen wichtigen Verbündeten: Gouverneur Al Smith fördert die Karriere seines Protegés, obwohl die beiden Männer unterschiedlicher nicht hätten sein können. Moses, Spross einer privilegierten Familie und Al Smith, in armen Verhältnissen an der Lower East Side aufgewachsen, aber vom Wunsch beseelt, das Leben der ganz normalen Bürger zu verbessern. Voller Tatendrang unterstützt Moses Al Smiths Reformprogramm, doch gleichzeitig entwickelt er - mit Unterstützung des Gouverneurs - ein eigenes Projekt, so ambitioniert wie neuartig. ERZÄHLERIN Ende 1923, Anfang 1924. George Gershwin komponiert die Musik zu „Rhapsody in Blue“. F. Scott Fitzgerald vollendet den „Großen Gatsby“, den meisterhaften Roman über den amerikanischen Traum und seine Abgründe, dessen Handlung zwischen den Uferpromenaden auf Long Island und den Straßenschluchten von Manhattan pendelt. ERZÄHLER Da beginnt Robert Moses mit der Komposition einer anderen Art von Sinfonie, einer urbanen Rhapsodie. Statt Wörtern oder Noten benutzt er den Stadtplan, und zwar das gesamte 2100 Quadratmeilen umfassende Areal der Stadt New York und der sie umgebenden Landschaft, die er für das anbrechende Automobilzeitalter erschließen will. ERZÄHLERIN Er würde Parkanlagen bauen. Keine nur wenige Quadratmeter großen Spiel- und Sportflächen mit etwas Grün an den Rändern, wie es sonst üblich ist. Nein, Robert Moses schwebt ein Netz an Parks vor, durch breite, baumgesäumte Straßen verbunden, mit ausgedehnten Naturflächen und langen Sandstränden. Dazu Badehäuser, Umkleidekabinen, Open-Air-Cafés und Restaurants. MUSIK ERZÄHLERIN Der Zugang zu den Stränden von Long Island war lange Zeit nur den Superreichen auf ihrem Privatgrund vorbehalten. Doch Robert Moses schafft weitläufige Park- und Strandanlagen für die wachsende Mittelschicht, komfortabel, hygienisch und gut zu erreichen. Ebenso revolutionär wie die Anlagen sind die Anfahrtswege. Moses - mittlerweile Vorsitzender der „Long Island State Park Commission“ sowie Präsident des „State Council of Parks“ - lässt mit den sogenannten „Parkways“ ein Netz aus landschaftlich schön gestalteten Straßen bauen, ohne Kreuzungen, Ampeln, oder Bahnübergänge. ERZÄHLER Im Sommer 1929 eröffnet Jones Beach und wird für Robert Moses ein triumphaler Erfolg. Allein am Eröffnungstag setzen sich 25.000 New Yorker in ihre Autos, um den neuen Park und die Anlagen zu besuchen. Weitere 325.000 werden im ersten Monat folgen, um sich an den weißen Sandstränden und der Brandung zu erfreuen, und später auch an einem Amphitheater mit Meeresblick und Musikshows. Zudem lässt Moses eine Minigolfanlage errichten und einen eleganten Wasserturm, eine Kopie des Campanile auf dem Markusplatz in Venedig. Landschaftsarchitekten aus der ganzen Welt strömen nach Jones Beach um die Anlagen und das Straßennetz zu bewundern. OTON VOICEOVER JASON HABER 4 „We have to remember the New York before World War Two, there was a huge lack in infrastructure. And so I've argued that New York actually needed A Robert Moses, someone with the vision and ability to build and create and modernize. But instead we got THE Robert Moses. And it's that difference that makes all the difference in in the New York story. Because the Robert Moses that we got was a a racist who used his racial hatred to punish minority communities very clear in how certain roads were built.“ „New York vor dem Zweiten Weltkrieg litt unter einer mangelhaften Infrastruktur. Deshalb sage ich immer, dass die Stadt einen Robert Moses dringend nötig hatte, also einen Städteplaner mit Vision, der bauen und kreieren und modernisieren konnte. Stattdessen haben wir aber den Robert Moses bekommen, und das macht in der Stadtentwicklungsgeschichte einen gewaltigen Unterschied aus. Denn der Robert Moses, den New York bekam, war ein Rassist, der seinen Rassismus benutzte, um Minderheiten auszugrenzen, etwa indem er Straßen auf bestimmte Weise bauen ließ.“ ERZÄHLERIN Robert Moses, der subtile Rassist, dessen Vorbehalte gegen bestimmte Bevölkerungsschichten sich von Anfang an in der städtebaulichen Anlage seiner Projekte zeigen. Ein Vorwurf, den Jason Haber bereits in den Zufahrten zu Jones Beach bestätigt sieht. Wer zu den neuen Parks und Stränden wollte, musste mit dem Auto anfahren. Für die New Yorker, die auf U-Bahnen, Busse und Züge angewiesen waren, blieben die Anlagen unerreichbar. Moses selbst hatte die Zustimmung zum Bau einer Eisenbahnstrecke nach Jones Beach verweigert. Und die vielen elegant geschwungenen Brücken über die Parkways ließ er so niedrig bauen, dass sie für die meisten Busse unpassierbar waren. OTON VOICEOVER JASON HABER 5 „Why in the world were the overpasses of these roads build so low? The answer is he wanted cars only on them. Minority communities at the time typically took busses. They weren't car owners at the time, and this kept minorities out of Jones Beach. And if you look at all the early photos of Jones Beach there, on many of them you will only see white people. It’s done by design. It’s racism by design. And Moses is responsible for that.“ „Warum um alles in der Welt waren diese Brücken mitten in der freien Natur so niedrig gebaut? Die Antwort: Moses wollte auf den Parkways nur Autos haben. Denn die schwarze Bevölkerung war überwiegend auf Busse angewiesen. Schwarze konnten sich nur in Ausnahmefällen ein eigenes Auto leisten. Sehen Sie sich all die frühen Fotografien von Jones Beach an. Auf den meisten sind ausschließlich Weiße zu sehen. Das war so geplant. Rassismus durch Städteplanung. Und Moses ist dafür verantwortlich.“ MUSIK ERZÄHLER Nach dem Erfolg mit Jones Beach und weiteren Anlagen versucht Robert Moses seine politische Macht durch eine Wahl zu zementieren, aber er scheitert krachend. Bei den Gouverneurswahlen 1934 verliert Moses gegen den demokratischen Kandidaten, und zwar mit dem höchsten, bis heute jemals gemessenen Abstand an Stimmen. Er mag ein brillanter Redner sein, doch sein Auftreten wirkt kühl, mitunter arrogant und alles andere als volksnah. MUSIK ERZÄHLERIN Volksnähe hingegen hat der 1934 neu ins Amt gewählte Bürgermeister Fiorello LaGuardia im Übermaß. Unter ihm sieht Moses eine andere Chance, Macht anzuhäufen. LaGuardia bittet Moses, sich um die städtischen Parkanlagen zu kümmern und City Park Commissioner zu werden. Moses ist einverstanden, doch macht etliche Bedingungen. Er lässt alle Bezirksparkverwaltungen zu einer einzigen zusammenlegen, unter seiner Leitung. Zudem besteht er darauf, sämtliche bisherigen Staatspark-Ämter auf Long Island zu behalten. ERZÄHLER Und er besteht auf einen weiteren Posten: Geschäftsführer und Generaldirektor der „Triborough Bridge Authority“, eines groß angelegten öffentlichen Brücken-Bauprojekts, das Manhattan, die Bronx und Queens miteinander verbinden soll. Der Bürgermeister stimmt zu. Und Moses selbst schreibt das Gesetz, das ihm seine neue Position einrichtet. ERZÄHLERIN Theoretisch sollten öffentliche Behörden wie die Triborough Bridge Authority nach Fertigstellung des jeweiligen Projekts und Begleichung der Kosten wieder aufgelöst werden. Doch Robert Moses hat nicht die Absicht, diese Behörde jemals wieder zu schließen. Denn die Brücken mit ihren Mautstationen sind eine ideale Einnahmequelle. Und diese Millionen von Münzen aus der Maut nutzt er durch geschickt formulierte Gesetzespassagen als stetigen Geldstrom, um damit Mittel für zukünftige Projekte zur Verfügung zu haben. So schafft sich Robert Moses eine Machtbasis, die ihn vor etwaigen Eingriffen des Bürgermeisters, des Gouverneurs und anderer absichert. Auf dem Höhepunkt seiner Macht hat er 12 Posten gleichzeitig inne. ERZÄHLER Moses kann sich - ohne Wahl, nur durch Ernennung - über die Amtszeiten von fünf New Yorker Bürgermeistern und sechs Gouverneuren an der Macht halten. 1946 übernimmt er das neu geschaffene Amt des Stadtbaukoordinators. Damit hat er das Sagen über sämtliche öffentliche Bauvorhaben in allen fünf Boroughs. Nicht nur über Parks und Parkways, Tunnel und Brücken, sondern auch über Wohnungsbauprogramme, Schulen und Gemeindezentren. ERZÄHLERIN Moses fädelt den Bau des UNO-Hauptquartiers auf einem ehemaligen Schlachthofgelände am Ostufer Manhattans ein. An der Upper West Side lässt er das Slum-Viertel San Juan Hill abreißen, um das Kulturzentrum Lincoln Center, mitsamt dem Neubau der Metropolitan Opera zu errichten. Ganz im Sinne von Le Corbusieur und anderer Verfechter des Modernismus verfolgt Robert Moses seinen Plan einer Stadt der Moderne. Störende Stadtbewohner werden zur Verschiebemasse. MUSIK ERZÄHLER Die Vorkriegseleganz von Projekten wie Jones Beach ist nun passé. Moses prägt den Wohnungsbau der Nachkriegszeit, indem er in den 1950er und 60er Jahren kastenförmige Apartmenthochhäuser errichten lässt. Allein in Harlem verschwinden 100 Hektar an alter Bausubstanz und müssen 40.000 neuen Wohneinheiten weichen. Ein zweischneidiges Schwert. Viele Anwohner können zum ersten Mal in eine eigene Wohnung ziehen, doch die kasernenartige Backsteinarchitektur ist anonym und abweisend. Der Schriftsteller John Cheever kritisiert die Mietskasernen: Sie würden jedes Fünkchen Fantasie vermissen lassen, kein Mensch wäre jemals auf eine Stadt von solcher Monotonie auch nur im Traum gekommen. OTON VOICEOVER JASON HABER 6 „Planners from around the country and around the world came to New York to learn the ways of Moses. So in the Twentieth Century there were Moses disciples that saw what he was doing and then took that to their own cities. The problem was the centerpiece of Moses urban plans: it didn't revolve around people. It revolved most importantly around the car. And I've called it the error of the autocracy where the car is the dominant actor on the streetscape.“ „Städteplaner aus dem ganzen Land und sogar weltweit kamen nach New York um von Robert Moses zu lernen. Es gab im 20. Jahrhundert viele Moses-Schüler, die seine Konzepte dann auch in ihren Städten verwirklichten. Das Problem daran war aber: Diese Art der Stadtplanung drehte sich nicht um die Menschen, sondern vor allem um das Automobil. Ich nenne es den „Fehler der Autokratie“. Wir haben unser Straßenbild von den Bedürfnissen der Autos bestimmen lassen.“ MUSIK ERZÄHLERIN Für Stadtplaner wie Jason Haber ist dieser Fokus auf das Automobil die Ursünde, die einen Teufelskreislauf in Gang gesetzt hat. Ursprünglich hatte Moses seine Parkways gebaut, um Großstadtbewohnern die Möglichkeit zu einer Landpartie zu geben. Doch ab den 50er-Jahren werden neben diesen Parkways immer mehr Vorstadtsiedlungen aus dem Boden gestampft. Die Zahl der Pendler wächst und wächst, und mit ihnen die Staus und Wartezeiten und auch der Frust der Autofahrer. Für Robert Moses als Verkehrsplaner gibt es nur eine Lösung: mehr Straßen. ERZÄHLER Keine alleeartigen Parkways mehr, sondern achtspurige Expressways, 70 Meter breit, ohne unnötige Kurven und Umwege. Für den sieben Meilen langen Cross-Bronx Expressway lässt Moses 40.000 Menschen umsiedeln und die Arbeitersiedlung East Tremont dem Erdboden gleichmachen. ERZÄHLERIN Elf Expressways entstehen in der Ära Moses. Betonschneisen auf einer Länge von 130 Meilen, die einige der am dichtesten besiedelten Wohngebiete der Welt durchschneiden. Betonschneisen, für die über eine Viertelmillion New Yorker Bürger - meist aus der Unterschicht - ihre Wohnung verlassen müssen. Doch die neuen Highways sind bald schon wieder überlastet. Und der Widerstand gegen weitere Trassen quer durch Manhattan wächst. MUSIK ERZÄHLER Moses lässt ein 14 Block großes Areal am westlichen Rand von Greenwich Village als „Stadterneuerungsgebiet“ ausweisen, sprich: zum Abriss freigeben. Doch diesmal wehren sich die Bewohner des West Village - mit Erfolg. An der Spitze des Widerstands steht eine kämpferische Frau und begnadete Autorin: Jane Jacobs. ERZÄHLERIN Mit ihrem Sachbuch „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ prangert sie die Sünden des modernen Städtebaus an, vor allem die Siedlungen für Geringverdiener – in ihren Augen schlimmere Brutstätten für Verbrechertum, Vandalismus und soziale Hoffnungslosigkeit als die Slums, die sie ersetzen sollten. Sie kritisiert Promenaden, die kein Spaziergänger benutzt, die irgendwo sinnlos beginnen und nirgendwo hinführen, und Schnellverkehrsstraßen, die die Großstädte ausweiden. All das sei keine Stadterneuerung, sondern Raubbau, Städteabbau. MUSIK ERZÄHLER Mit Protestaktionen kämpfte Jane Jacobs um den Erhalt des West Village. Sie betonte die für das städtische Klima die so wichtige Vielfalt, das Nebeneinander von Geschäften, Bars, Restaurants, Wohn- und Mietshäusern, Fabriken und Werkstätten, das Stadtplanern wie Jason Haber bis heute als Vorbild dient. OTON VOICEOVER JASON HABER 7 „Her vision of urban planning comes from her looking out her window. She would see the ballet of the city, as she called it the butcher coming in to open his shop, the kids walking home from school, the people doing commerce in the small retail spaces. Everyone played a part in this ballet and the intricacy of it kept the city and the neighborhood safe. When you remove that and you create these lack of retail areas like the the public housing projects that Moses built, no retail, inner courtyards, you know they're breeding grounds for bad behavior.“ „Woher kam ihre Vision für eine Stadtplanung? Indem sie aus dem Fenster sah. Und was sie sah, nannte sie „das Ballett der Stadt“. Der Metzger, der morgens kommt um seinen Laden zu öffnen. Die Kinder, die nach der Schule nach Hause gehen. Das Gewusel der Leute, die in den Läden ihre Einkäufe erledigen. Alle spielen in diesem Ballett eine wichtige Rolle, halten die Stadt lebendig und machen das Viertel so auch sicherer. Stoppt man aber dieses Miteinander, wenn es etwa in den Siedlungen keine Geschäfte und Treffpunkte mehr gibt, und vor allem nur nach innen gerichtete Höfe, wie in den Wohnungsbauprojekten von Moses, dann fördert das den Verfall der Sitten.“ ERZÄHLERIN Jane Jacobs schafft es, eine breite Allianz gegen Moses zusammenzutrommeln und seine Highwaypläne durch das West Village endgültig zu stoppen. Zudem sorgt ab 1965 die New Yorker „Landmarks Preservation Commission“, die erste Denkmalschutzbehörde in den Vereinigten Staaten, für ein Umdenken. Hunderte Einzelgebäude sowie komplette historisch gewachsene Viertel wie Greenwich Village werden unter Denkmalschutz gestellt. Die Ära von Robert Moses neigt sich dem Ende zu. Gouverneur Nelson Rockefeller – selbst ein fintenreicher Machtmensch - entzieht ihm nach und nach die Ämter. ERZÄHLER Widerwillig geht Robert Moses 1968 in den Ruhestand. Bis ins hohe Alter bleibt er streitlustig. Er stirbt 1981, im Alter von 92 Jahren. Bald gerät sein Name immer mehr in Vergessenheit. ERZÄHLERIN Es ist eher Jane Jacobs‘ Vision von einer Metropole, die sich in den kommenden Jahrzehnten durchsetzen wird. New York stoppt fast alle großen Straßenbauvorhaben und steckt Milliarden Dollar in den Um- und Ausbau des U-Bahn-Netzes. Und die Stadtverwaltung wird so neuorganisiert, dass keine Einzelperson mehr die Machtfülle anhäufen kann, die Robert Moses innehatte. Allerdings gibt es dennoch bis heute Anhänger einer solchen Ausnahmeposition. Jason Haber: OTON VOICEOVER JASON HABER 8 „You hear that all the time about Robert Moses: „ At least he got it done!“ But that's not the whole story. Tell „At least he got it done!“ to the hundreds thousands of minorities who lost their homes, their jobs, their wellbeing, their livelihood because of decisions that Robert Moses made. Tell it to the guy sitting in traffic for two and a half hours when it should only be 25-30 minutes because of poorly planned roads. People are so enamored by the new, the shiny, by construction, that sometimes they don't take a step back and say is it worth the cost?“ „Immer wieder höre ich diesen Satz über Robert Moses: „Er war wenigstens ein Macher!“ Sagen Sie mal „Er war ein Macher!“ zu den Hunderttausenden, meist Schwarzen oder Latinos, die ihre Häuser, ihre Lebensgrundlage, ihr Viertel verloren haben, wegen Entscheidungen, die Robert Moses getroffen hat. Sagen Sie das den Leuten, die wegen der Straßenplanung jeden Tag zweieinhalb Stunden im Stau stehen, obwohl sie eigentlich nur eine halbe Stunde entfernt wohnen. Wir lieben alles Neue, lieben die glänzenden Fassaden, die Bauten. Und so vergessen wir innezuhalten und uns zu fragen: sind die Kosten nicht zu hoch?“ MUSIK ERZÄHLER Andere sind weniger kritisch und loben das umfangreiche Fernstraßennetz, das Robert Moses hinterlassen hat. Ein Netz, dass der moderne Großstadtverkehr zum Überleben braucht, heißt es, auch wenn in vielen amerikanischen Metropolen die Stadtzentren von Expressways zerrissen und verunstaltet wurden. ERZÄHLERIN Zumindest Manhattan ist dieses Schicksal erspart geblieben. New York hat sich von Robert Moses formen lassen, hat sich mal verschönern und oft verwunden lassen, aber hat sich - rechtzeitig - zur Wehr gesetzt.…
Das untergegangene Angkor war eine Stadt der Superlative. Ihr Gebiet war so groß wie Berlin heute. Bis zu eine Million Menschen sollen dort gewohnt haben. Sie haben ihren Herrschern Tempel erbaut, über hundert davon sind noch heute begehbar, viele sind noch versteckt im Dschungel von Kambodscha. Der wohl berühmteste Tempel ist der Angkor Wat, größer als der Petersdom in Rom. Von Johannes Marchl (BR 2020) Credits Autor: Johannes Marchl Regie: Frank Halbach Es sprachen: Hemma Michel, Stefan Wilkening, Michael Atzinger Technik: Christian Schimmöller Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Wibke Lobo, Dr. Hans Leisen, Touch Linktipps: NDR (2024): Kambodscha – Zwangsumsiedlung in Angkor Wat Seit fliegende Händler nicht mehr um die Tempel arbeiten und leben dürfen, haben viele Familien Angst um ihre Zukunft. JETZT ANSEHEN ZDF (2021): Angkor Wat – Kambodschas antike Tempelstadt Versteckt im Dschungel von Kambodscha steht der größte religiöse Bau der Welt: die Tempelanlage von Angkor Wat. Moderne Technik hilft den Forscherteams bei der Studie des Bauwerks. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK & ATMO OT 1 Touch, AW 3 auf kambodschanisch Sprecher Overvoice: Das ist Angkor Wat, der wunderbarste Platz in Kambodscha, Weltkulturerbe. Phantastisch. Auch für die Kambodschaner ist er sehr wichtig, und wir sind glücklich, dann das ist ein Meisterwerk der Ahnen, die den Tempel gebaut haben und es ist wichtig für die nächsten Generationen, über dieses Meisterwerk Bescheid zu wissen. Sprecherin Touch, Tuktukfahrer, Restaurator und Privatgelehrter Zitator Einer dieser Tempel – ein Rivale zu Salomon und gebaut von einem antiken Michelangelo – könnte einen würdigen Platz an der Seite unserer schönsten Baudenkmäler einnehmen. Er ist größer als alles, was Rom und Griechenland uns je hinterlassen haben und steht im traurigen Kontrast zu der Barbarei, in die diese Nation versunken ist. Sprecherin: Henri Mouhot, französischer Naturfoscher um 1860. OT 2 Leisen Ich erzähle jedem der sagt:“ Ja, ich hab ja Bilder gesehen“: Das ist ganz was anderes. Wenn man dann vor dem ganzen Tempel steht. Man kann die Dimension, denke ich, auch aus gut gemachten Bildern nicht wirklich ablesen. Und ich glaub´, dass da alle Vergleiche hinken, das ist schon einmalig hier. Sprecherin Hans Leisen, Professor für Geologie und seit über 25 Jahren am Angkor Wat Konservator. Sprecher Einmalig, ein Meisterwerk, größer als alles, was Rom und Griechenland uns hinterlassen hat – was ist das für eine Tempelanlage, was sind das für Bauwerke, von denen hier die Rede ist? Die Forscher ebenso anziehen wie Touristen – drei Millionen und mehr sollen es jedes Jahr sein, die nach Angkor kommen. OT 5 Leisen im Auto Jetzt sind wir hier am Ost Eingang von Angkor Wat. Das ist also eines der Eingangsgebäude. Wir sind gerade über den Damm, über den breiten Wassergraben gefahren und fahren jetzt auf den eigentlichen Haupttempel zu MUSIK Sprecherin „Haupttempel“ – klingt jetzt erstmal wenig schillernd. Aber dieser Haupttempel trägt den Namen Angkor Wat. Und ist mit Sicherheit der berühmteste Tempel Kambodschas, wenn nicht von ganz Asien. Vor uns ragt er auf, majestätisch und doch elegant, und vor allem unglaublich groß. OT 6 Leisen Genau. Es ist ja ein Tempelberg, der sich eben aus der Ebene von Angkor heraushebt und das stufenweise. Da ist zunächst mal so eine Plattform mit Treppenaufgängen und mit Balustraden und Naga Köpfen gesäumt, also Nagas - Schlangenköpfen. Und dann sehen wir schon jetzt links die nächste Ebene und dann das ganze bis zum zentralen Heiligtum ganz oben. Und wir sehen natürlich auch unsere Gerüste. Sprecher Hans Leisen spricht von „unseren Gerüsten“, weil er sowas wie der heutige Tempel-Baumeister des Angkor Wat ist. „Tempeldoktor“ oder „Tempelretter“ wurde er auch schon genannt. Hans Leisen ist inzwischen emeritierter Professor für Geologie an der Kölner Universität. Seit mehr als zwei Jahrzehnten versucht er mit seinen Leuten den Angkor Wat vor dem nagenden Zahn der Zeit zu bewahren. Sprecherin Wie schwierig das ist, Hans Leisen wird es später noch beklagen. Aber jetzt erstmal: Was ist das, der Angkor Wat?! Wo steht er? Und: es gibt ja auch noch nur „Angkor“ – ohne „Wat“ – wie passt das denn zusammen?! OT 7 Leisen Also, man muss da die Begriffe auseinanderhalten. Das riesige Gebiet das ist Angkor, also „die Stadt“ bedeutet das. Und der Angkor Wat ist ein Tempel in diesem riesigen Gebiet. Das ist das, was als UNESCO Welterbe eingetragenes ist, 501 Quadratkilometer sind das, mit sicher über hundert begehbaren Tempeln. Und einer davon ist der Angkor Wat. „Wat“ ist der Tempel. „Tempel in der Stadt“ bedeutet das. MUSIK Sprecher In der Tat gehören die Tempelanlangen Angkors zu den größten religiösen Bauwerken überhaupt. Und vom Angkor Wat-Tempel heißt es, er sei doppelt so groß wie der Petersdom in Rom. Sprecherin Begonnen hat die Blütezeit Angkors im neunten Jahrhundert. Bis zum 15. Jahrhundert umfasst das Khmerreich ein riesiges Gebiet, ist das bedeutendste Reich in Südostasien. Ein Land übrigens ohne Namen. Wir wissen zumindest nicht, wie die Khmer selbst ihr Land genannt haben, es existieren keine schriftlichen Überlieferungen dafür. Andere Völker nannten das Reich „Kambuja“. Sprecher Was man weiß, ist, dass sich das Reich über das ganze heutige Kambodscha erstreckte, über Süd- und Ostthailand bis fast an die Grenze des heutigen Myanmar. Auf der anderen Seite gehörten auch Teile von Vietnam und von Laos zum Angkor-Reich. Und die Stadt Angkor selbst? OT 8 Leisen Die Kollegen von der University of Sydney sprechen von der ersten Megapolis. Oder besser noch oder genauer „Low Density Megapolis“, also wirklich so was wie heutzutage die Ballungsräume bei uns, das Ruhrgebiet oder der Osten der USA, Tokio, nur, dass das Ganze sich eben mehr in die Fläche verbreitet hat und nicht so kondensiert war. Sprecherin 36 Könige folgen aufeinander. Und jeder neue König baut sich seine neue, seine eigene Tempelstadt, sagt die Kunsthistorikerin Wiebke Lobo: OT 9 Kunsthistorikerin Wibke Lobo Jeder Herrscher hat eben einen Staats-Tempel gebaut, dann auch einen Ahnentempel, Memorial Tempel wird er auch genannt, um seine Herrschaft zu legitimieren und noch einen riesigen künstlichen See, den sogenannten Barey, der als Ur Ozean angesehen wurde, der für die Wasserversorgung zuständig war und auch als Badeplatz, als Heiliger Badeplatz. MUSIK Sprecher Das Korn, aus dem all diese Tempel und Gebäude keimen, ist der Reis. Er ist der Reichtum des Landes. Auch rund um die Metropole Angkor wird Reis angebaut. Und für Reis braucht man Wasser. Zwei riesige Wasser-Becken werden angelegt, sie heißen Baray. Das östliche Baray ist 7,5 Kilometer lang und fast 2 Kilometer breit, das zweite Baray im Westen ist sogar noch länger und breiter. Und ein ausgeklüngeltes Bewässerungssystem sorgt dafür, dass er wächst, der Reis. Und dass es nicht nur eine Ernte gibt, sondern drei! Der Ertrag wird von Forschern auf zweieinhalb Tonnen Reis pro Hektar im Jahr geschätzt. Zum Vergleich: im Mittelalter erntet man in Europa nur ein Achtel davon: 0,3 Tonnen Getreide pro Hektar. OT 10 Lobo Es war ein sehr mächtiges Reich zu Zeiten des Königs Suryavarmann II., dem zweiten, dem Erbauer des Angkor Wat, war es neben dem chinesischen Kaiserreich das mächtigste Reich Südostasiens. Handel, Landwirtschaft, Tropenholz war sehr begehrt. Gold, Edelsteine, dann Früchte, das Horn des Rhinozeros. MUSIK Sprecherin Doch leider hat uns diese Kultur kaum schriftliche Aufzeichnungen hinterlassen – außer einigen Inschriften an Säulen, über die Heldentaten der Könige, beispielsweise. Von den Bewohnern dagegen, von den Khmer, wissen wir so gut wie nichts. Überragende Baumeister müssen sie gewesen sein, davon zeugen die Tempel. Exzellente Ingenieure: der Beweis ist das ausgeklüngelte Bewässerungssystem mit riesigen Becken und einem weitverzweigten System aus Kanälen und Wasserspeichern. Meister der Steinmetzkunst: Den Angkor Wat umgibt das längste Relief der Welt, in höchster Kunstfertigkeit ausgeführt. Gute Bauern, die viel Reis anbauten, der verkauft werden konnte und Grundlage des Reichtums war. Und nicht zuletzt gehorsame und gläubige Untertanen: Bei jedem Wechsel auf dem Königsthron wurden neue Tempel gebaut, ihren Göttern und ihrem gottähnlichen König zu Ehren. Und Angkor, die Stadt, war das Zentrum des historischen Khmer-Königreichs „Kambuja“. OT NEU LOBO Eine großartige Kultur hervorgebracht, durch Buddhismus und Hinduismus, Herrscher und Hof sehr gebildete Menschen, die einzigen Sanskrit Inschriften. Sprecher Inschriften in Sanskrit also, doch nur wenige, in Stein gehauen. Denn die Khmer benutzten und schrieben normalerweise auf Palmblätter, die längst zerfallen sind, ein Grund, warum wir gerade über die „normalen“ Menschen so wenig wissen – was nicht aus Stein ist, ist vergangen… Worauf gründen wir unser Wissen über Angkor dann?! MUSIK Sprecherin Einmal auf archäologische Funde, vor allem auf Reliefs an einer Reihe von Tempelwänden. Dort werden neben mythologischen Szenen aus großen Volksepen auch ganz normale Alltagsszenen dargestellt: Einkaufen auf dem Markt, Fische aus dem nahen See Tonle Sap oder Musikinstrumente wie Stabzither, Bogenharfe und Schneckenhorn. – Und dann auf Berichte von chinesischen Diplomaten, Händlern und Reisenden. Und noch etwas hat viel Licht in das „Rätsel Ankgor“ gebracht hat: Aufnahmen aus der Luft. Ab 2012 hat ein Forscherteam eine Fläche von 1900 Quadratkilometern mit dem Laser abgetastet. Unter den dichten Dschungelbäumen wurden ganze Städte entdeckt, von denen niemand wusste, Tempel, Kanalsysteme. Mit Folgen für die Forschung: Unter anderem musste die gängige Theorie über den Untergang des Khmer Reichs revidiert werden. Sprecher Wozu wir noch kommen werden. Aber zunächst mal zu den schriftlichen Quellen: Forscher sagen, die authentischste Erzählung über die Blütezeit Angkors stammt von Zhou Daguan, einem chinesischen Botschafter. 1296 kam er für ein Jahr nach „Chenla“, wie die Chinesen das Khmer-Königreich nannten. MUSIK Zitator Wenn der König ausgeht, führen Truppen seine Eskorte an. Dann kommen Flaggen, Banner und Musik… Palastfrauen mit Blumen in den Haaren halten Kerzen in den Händen, selbst bei strahlendem Tageslicht sind die Kerzen angezündet… Minister und Prinzen reiten auf Elefanten und vor ihnen kann man ihre unzähligen roten Schirme sehen. Hinter ihnen kommt der König, stehend auf einem Elefanten, sein heiliges Schwert in der Hand haltend. Die Stoßzähne des Elefanten sind umhüllt von Gold. Sprecherin Zhou Daguans Beschreibung mag eine Vorstellung geben, wie prächtig so eine königliche Parade ausgesehen hat. Doch die Wirklichkeit übertrifft dies bei weitem. Wenn man vor dem berühmtesten und am besten erhaltenen Tempel dieser Zeit steht, kann einem schon kurz der Atem stocken. Der Angkor Wat. Ein Mammut-Projekt von König Suryavarman II. aus dem 12. Jahrhundert. In nur 37 Jahren hat er den Tempel erbauen lassen. Logistisch extrem anspruchsvoll, meint Kunsthistorikerin Wiebke Lobo: OT 11 Lobo Denn es musste ja auch das Material herantransportiert werden. In der Umgebung gab es keine Felsen, keine Steine. Die wurden aus den Bergen Kolehn herantransportiert. Eine Riesenleistung, die nur möglich war, weil man gute Wasserwege hatte. Sprecher Wasserwege und Zehntausende von Arbeitern, die dem König zu dienen hatten, egal ob er sie in den Krieg schickte oder einen Tempel bauen ließ. OT 13 Lobo Die Tempel wurden nach kosmologischen Gesichtspunkten gebaut. Die Menschen waren der Meinung, dass kosmologische Kräfte, der Kosmos auf ihr Wohlbefinden und auf ihr Schicksal einwirken. Und das bedeutet, dass sie nach indischen Vorstellungen bei den Tempelanlagen ein Abbild des Kosmos schufen. Es gab den Ur-Ozean, der die Welt umgab, dann Gebirgsketten, die den Mittelpunkt der Welt, den Berg Meru einschlossen und alles zusammen wurde auf die Tempelarchitektur übertragen. Sprecher Geplant und ausgeführt ist der Angkor Wat also als hinduistischer Tempel. Später wurde er allerdings die buddhistische Glaubensstätte, die sie heute immer noch ist. Sprecherin Die Umrandung ist also ein gigantischer Wassergraben – aber nicht der Blickfang, der befindet sich dahinter. Der Blick, der ist unweigerlich gefangen vom Tempel an sich, der den Berg Meru symbolisiert – den Sitz der Götter. Über drei Ebenen ansteigend ragt er 65 Meter hoch auf, fünf Türme mit einer Lotusblütenspitze, vollkommen in der Proportion, gewaltig und doch harmonisch in dieser Landschaft. MUSIK Sprecher Aber es ist nicht nur der gigantische Bau mit seinen Lotus-Türmen, es sind auch die Details, die den Angkor Wat einmalig machen. Die Reliefs – in feinster Arbeit zieren sie die kilometerlangen Korridore und Galerien, die den eigentlichen Tempel umrahmen. Forscher gehen heute davon aus, dass diese unterste Ebene offensichtlich für das Volk angelegt war. Szenen aus den großen Volksepen Mahabharata und Ramayana sind verbildlicht: Der göttliche Held Rama im Kampf um seine entführte Gattin Sita, der Entführer und Dämonenfürst Ravana im Kampf gegen den Führer der Affenarmee Hanuman – ringsherum ein Wimmelbild an Kämpfern und Dämonen. Sprecherin Aber König Suryavarman II. vergisst auch nicht, seinen Untertanen zu zeigen, was passiert, wenn sie kein gehorsames, gott- und königgefälliges Leben führen: mit einem 66 Meter langen Fries, auf dem eine Art Jüngstes Gericht dargestellt wird und wo neben dem Paradies auch sehr deutlich die Strafen, die in der Hölle warten, zu sehen sind: zum Beispiel von Löwen zerfleischt werden oder von Elefanten niedergetrampelt; alternativ wäre da noch der Scheiterhaufen oder die Streckbank, auf der man mit einem Reibeisen die Haut abgeschabt bekommt. OT 14 Leisen Also, das ist sicherlich auch das ähnliche bei uns, dass eben der Erbauer mit dem Tempel sich auch quasi sein ein Denkmal setzt. Alles andere war ja vergänglich gebaut bis auf die Tempel, die Paläste, die Häuser, alles war aus Holz. Ich würde schon denken: Angkor Wat, das war eine ungeheure Machtdemonstration auch. Sprecher Eine Machtdemonstration, die im Innersten, im Tempel selbst, dem König vorbehalten war – wohl neben den Priestern. Hier, im Allerheiligsten seines Staatstempels, ist der König - und nur der König - den Göttern nahe. OT 15 Lobo Man kann sagen, in ihm war die göttliche Essenz des Königtums verkörpert. Aber er war kein Gott-König. Sprecherin Wobei man nie vergessen sollte: der Angkor Wat mag der prächtigste aller Tempel sein, aber er ist bei weitem nicht der einzige. OT 16 Lobo Hunderte von Tempeln, aber nicht nur dort, sondern im ganzen Land. Man entdeckt immer noch heutzutage im Urwald überwucherte Tempelanlagen. Sprecher Hunderte von Tempeln. Und was für Tempel! Neben dem Angkor Wat zum Beispiel der Bayon, mit seinen über 200 Gesichtern, vier an jedem der 54 Türme, die einen buddhistisch weise anlächeln. OT 17 Lobo Das ist ja das Großartige der späten Angkor-Zeit, dass dann plötzlich architektonische Strukturen auftreten, die man nie gesehen hat, nämlich die Gesichter-Türme, monumentale Gesichter, von ungefähr einen Meter 80 Höhe. Man kann die Gesichter noch nicht wirklich deuten. Man spekuliert, man weiß nicht. Stellen Sie den Gott Brahma dar, der seit alter Zeit traditionell mit vier Gesichtern dargestellt wird. Oder ist es der König selbst? Oder es ist der Bodhisattva Lokeshvara? Also, das ist alles noch unklar. Sprecherin Oder der Ta Prohm Tempel, berühmt geworden durch Angelina Jolie, die als Lara Croft zwischen seinen Mauern nach dem „Auge der Vorsehung“ sucht. Mauern, die von ungeheuren Baumriesen überschattet sind, ein Dschungel. Die Wurzeln der Würgefeigen umklammern den Tempel, wie Kraken sitzen sie auf den Mauern. Sprecher Doch was ist der Grund für den plötzlichen Zusammenbruch dieser Mega-Metropole, warum verlegen die Khmer die Hauptstadt ihres Reiches an den Mekong, nach Phnom Phen? Lange wurden externe Feinde – der Einfall der Thai, das Erstarken des Königsreichs Siam – dafür verantwortlich gemacht. Kunsthistorikerin Wibke Lobo stellt einen anderen Grund nach vorne: OT 18 Lobo Heute weiß man, dass auch andere Gründe ausschlaggebend waren, und einer der ganz wichtigen Gründe ist Klimaveränderung. Durch paläoklimatologische Forschungen weiß man, dass im 14. und 15. Jahrhundert Jahrzehnte lange Dürren stattgefunden haben, unterbrochen von katastrophalen Regenfällen. Und diese Klimakapriolen haben dazu geführt, dass das empfindliche Kanalsystem, auf dem ja die Reiswirtschaft, überhaupt die Landwirtschaft beruhte, dass das nicht mehr zu pflegen war. Die Kanäle waren verschüttet, sie waren verstopft, alles funktionierte nicht mehr. Sprecherin Überbevölkerung, Klimaveränderung, Überfälle von Feinden – Anfang des 15. Jahrhunderts verlassen die Bewohner Angkor; die Stadt verschwindet von der Landkarte als mächtige Megametropole. Der Dschungel bemächtigt sich der Gebäude. Die Holzhäuser verwittern, die Tempel verfallen. Aber Angkor ist nie vergessen, in dem Sinne, dass niemand mehr um die Stadt wusste. OT 19 Lobo Es war den Europäern unbekannt, aber in Kambodscha, in Südostasien insgesamt war es bekannt. Der Angkor Wat war ja zu einem buddhistischen Tempel geworden, umfunktioniert worden, erst hinduistisch, dann buddhistisch, und es gab immer Pilger aus ganz Südostasien, die zum Angkor Wat gepilgert sind. Sprecher Insofern ist es nur ein europäisches „Entdecken“, als der Naturkundler Henri Mouhot und ein paar Jahre später der Deutsche Völkerkundler Adolf Bastian in den 1860er Jahren hierherkommen und mit Berichten und Skizzen und Zeichnungen die Europäer staunen lassen. Niemand in Europa hatte damals geglaubt, dass im Urwald Südostasiens solche ungeheuren Bauwerke schlummern. Und heute? Ein Riesenproblem sind sicherlich die Touristen, die Angkor regelrecht überrennen. Zur Touristenerosion kommt die ganz normale Erosion, wenn man Konservator Hans Leisen fragt, wie es zum Beispiel um den Angkor Wat bestellt ist, sagt er: OT 20 Leisen Ja, in vielen Bereichen sehr gut, in manchen Bereichen sehr, sehr schlecht. Insbesondere die Flachreliefs in den Galerien, die sind in relativ gutem Zustand. Aber alles, was dann außen ist, also wo der Regen direkt rankommt, wo dann anschließend die Sonne richtig aufheizen kann. Da sind schon viele Bereiche sehr, sehr dramatisch oder schon ganz verschwunden. Es sind vor allem ja, was unserem Projekt dann auch den Namen gegeben hat, German Apsara Conservation Project, diese so genannten Apsaras. Es sind eigentlich Göttinnen, die überall an den Eingangsbereichen zu finden sind. Insgesamt 1.950 sowas in der Richtung. Da sind ganz extreme Schäden, ganz dramatische Schäden. MUSIK Sprecherin Dazu kommt noch eine andere Art des Verschwindens: Während der französischen Kolonialherrschaft sind schon unzählige Objekte aus dem Land gebracht worden, ebenso unter den Roten Khmer. Und der Kunstraub ist keineswegs zu Ende. Erst vor ein paar Jahren hat eine frisch gestohlene Khmer-Figur den Versteigerungskatalog von Sotherbys auf der Titelseite geziert. Auf der anderen Seite ist Angkor weit mehr als eine sentimentale Erinnerung oder der Name einer Biersorte in Kambodscha, sagt die Kunsthistorikerin Wiebke Lobo OT 21 Lobo Mit Angkor identifizieren sich die Kambodschaner, es ist ihr Anker und ihr Wert an sich. Es ist sicherlich das Bewusstsein, dass das Land mal eine große Kultur hatte. Und diese Sehnsucht nach dieser Größe ist da auf jeden Fall, der Stolz darauf ist da, alles zusammen es eben wirklich überwältigend. MUSIK Sprecher Was auch unser wunderbarer Tuktukfahrer und Angkor Wat Führer Touch nochmal bestätigt: OT Touch 6 auf englisch SPRECHER: Overvoice Dieser Tempel, der Angkor Wat ist so interessant, die Leute kommen, machen ein Selfie, aber wissen nichts über den Wert der Steine. Wir Kambodschaner wissen, dass wir aufpassen müssen, dass wir das bewahren und uns darum kümmern müssen, es zu konservieren. Das ist meine Meinung.…
Die ersten Holzhütten in den Sümpfen der Lagune¬ - wann sind sie entstanden und vor allem: warum? Schließlich war nicht einmal Venedigs Boden unter den Füßen sicher. Wie konnte diese ärmliche Siedlung zu einer europäischen Großmacht aufsteigen? Von Thomas Morawetz (BR 2021) Credits Autor: Thomas Morawetz Regie: Martin Trauner Es sprachen: Thomas Birnstiel, Irina Wanka Technik: Susanne Harasim Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Arne Karsten, Dr. Francesco Borri Linktipps: Das Kalenderblatt (2024): Casanova wird in den Dogenpalast gesperrt Irgendwann ist auch mal gut - beschließt der Adel in Venedig und macht dem Möchtegern Casanova einen dicken Strich durch die Rechnung. Statt weiter so zu tun, als wäre er einer der ihren, Frauen zu bezirzen, Männern Geld abzuschwatzen, wandert er in den Kerker. Vorrübergehend. JETZT ANHÖREN WDR (2023): Venedig – Ausverkauf einer Traumstadt? Kaum eine Stadt auf der Welt bietet eine solche Vielfalt an Bau- und Kunstwerken wie Venedig. In Mittelalter und Renaissance war sie eine Großmacht. Heute verdrängt der Massentourismus die Venezianer aus ihrer Stadt, Kreuzfahrtschiffe verpesten die Luft und gefährden das sensible Ökosystem der Lagune. Ist Venedig noch zu retten? JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK & ATMO Wasserwellen, Frösche SPRECHERIN Kann man es sich so vorstellen? Beginnt so der einzigartige Zauber, der Venedig weltberühmt machen wird? Haben die ersten Besiedler dieses Ortes mit ihren Kähnen einfach angehalten? An ein paar beieinanderliegenden Inseln im brackigen Sumpf… So muss es damals auf jeden Fall in der Lagune ausgesehen haben. Dr. Arne Karsten ist Historiker an der Bergischen Universität Wuppertal und der Autor mehrerer Bücher über die Geschichte Venedigs: 1 Zusp. Karsten In der Spätantike, da gab es eine ganze Serie von Lagunen im Bereich der nördlichen Adria. Ein ganz eigenartig amphibischer, könnte man sagen, Lebensraum, zum Meer getrennt durch schmale Sandbänke, die sogenannten Lidi. Vom Land kommt Wasser nach durch Flussmündungen, und so haben wir einen Lebensraum der höchstgradig labil ist, bedroht einerseits durch Sedimentierung aus den Flüssen oder Erosion vom Meerwasser, was zufolge hatte, dass tatsächlich auch die meisten dieser Lagunen heute verschwunden, sind, entweder vom Meer gefressen oder vom Lande zugespült. MUSIK & ATMO Wasserwellen SPRECHER Ein Wunder, dass man in einer solchen Landschaft überhaupt eine dauerhafte Siedlung anlegen konnte. Zunächst musste der sandig-sumpfige Untergrund für Hütten und Holzhäuser stabil befestigt werden. Wie genau die ersten Hüttenbauer dabei vorgegangen sind, weiß man heute nicht mehr. Aber das Prinzip, wie man unter diesen Bedingungen sicheren Grund zum Bauen gewann, ist für spätere Jahrhunderte belegt – und auf diesem Prinzip steht Venedig bis heute. 2 Zusp Karsten Die entscheidende Rolle spielt dabei, das Einrammen von idealerweise in Teer getränkten Baumstämmen in den sandigen, morastigen Untergrund. Wenn diese Baumstämme dann tatsächlich unter Wasser sind, halten die ewig. Das Problem ist immer, Oxidation und Zerstörungsprozesse setzen ein, wenn durch Tidenhub, durch unterschiedliche Wasserhöhen, Luft an diese Stämme kommt. MUSIK SPRECHERIN Auf diese eingerammten Pfähle nagelte man Bretter. Sie gaben das Fundament, auf das gebaut wurde. Viel später trugen solche Holzgerüste auch riesige Steinlasten. Die prächtige Kirche Santa Maria della Salute am Ausgang des Canal Grande wurde im 17. Jahrhundert erbaut. Sie steht auf über einer Million solcher Pfähle. SPRECHER Doch soweit ist es noch lange nicht, als die ersten Hütten am heutigen Canal Grande entstehen. Die Hauptwasserader Venedigs mündet im Süden der Stadt in die Lagune. In der Spätantike konnte man es vielleicht noch deutlicher sehen: Der Verlauf des Canal war ursprünglich Teil einer Fluss-Mündung. Der Fluss Brenta aus den Alpen suchte sich hier einen Weg zum Meer. Erst über 1000 Jahre nach der ersten Besiedlung des Orts gräbt Venedig diesem Flussarm ein neues Bett, das ihn heute südlich von Chioggia in die Adria leitet. Der Canal Grande: Vielleicht wurde also diese Stelle in der Lagune für eine Siedlung gewählt, weil sie über eine Flussströmung gut vom Festland aus zu erreichen war – und gut zum Meer hin lag. SPRECHERIN Aber warum sollten Menschen einen solchen völlig unwirtlichen Ort besiedeln? Sicheres weiß man über diese ersten Anfänge Venedigs nicht, aber der Hintergrund lässt sich ermitteln. Er ist eng verbunden mit der politischen Großwetterlage der Spätantike. Ein Rückblick: Schon länger war das Römische Kaiserreich in eine West- und eine Osthälfte geteilt. Der Westen hatte ebenfalls noch einige Zeit einen Kaiser, allerdings wurde dieser letzte Herrscher Westroms im Jahr 476 abgesetzt. Danach herrschten die Ostgoten in Italien. Ein kurzes Gastspiel. Schon bald eroberte der byzantinische Kaiser Justinian große Teile Italiens für sein Römisches Reich zurück. Viel von der byzantinischen Bau- und Kirchenkunst, die sich bis heute in Italien erhalten hat, ist eine Folge dieser römischen Rückeroberung. – Auch im späteren Venedig. Denn die nördliche Adria samt dem dahinterliegenden Festland bis zu den Alpen war nun der äußerste westlichste Rand des byzantinischen Reichs. SPRECHER Lange hielt die Ruhe nicht. Schon wenige Jahrzehnte später brachen die Langobarden in den Raum südlich der Alpen ein. Und sie blieben. Bis heute heißt das Gebiet um Mailand „Langobardenland“ – Lombardei. SPRECHERIN Nach und nach festigten die Langobarden ihre Herrschaft. Dabei nahmen sie auf dem Festland, das heute Venedig gegenüberliegt, Städte ein, die für die byzantinische Verwaltung unverzichtbar waren. Die Bevölkerung brauchte einen neuen Plan: Wohin sollte sie ausweichen? SPRECHER Direkt vor ihnen, in Sichtweite, lag das weite Terrain der Lagune. Spätestens jetzt werden wohl die ersten Hütten Venedigs gebaut. SPRECHERIN Doch waren die künftigen Venezianer überhaupt die ersten Siedler in der Lagune? Der Historiker Dr. Francesco Borri von der Universität Ca‘ Foscari in Venedig: 3 Zusp Borri La laguna ha una storia di abitazione molto antica. Si è pensato che fosse frequentata dai tempi dei greci e dei romani. La questione spesso per gli storici: da quando esiste un insediamento permanente nella laguna, ossia da quando le persone si sono trasferite permanentemente a vivere nella laguna? ZITATOR OV Die Besiedlung der Lagune reicht weit zurück, schon Griechen und Römer sind hier zu belegen. Entscheidend ist aber: Seit wann gibt es eine dauerhafte Besiedlung der Lagune? Wann sind die Leute dort rausgezogen, wollten dort wirklich leben? MUSIK SPRECHER Francesco Borri glaubt, dass es zur Zeit der Langobarden-Invasion in Norditalien durchaus sogar schon dauerhaftes Leben in der Lagune gegeben haben kann. Vielleicht hat schon die Invasion der Ostgoten hundert Jahre zuvor dort vereinzelt Siedlungen entstehen lassen. Doch jetzt war der Druck noch einmal erheblich gewachsen: Die byzantinische Verwaltung musste das Festland vor der Lagune räumen. Die sumpfige Lagune war nun direkt der Rand des Oströmischen Reichs. SPRECHERIN Die ersten Holzhütten Venedigs scheinen in diesem Zusammenhang entstanden zu sein: zwischen etwa 500 und 650, zwischen dem Ende des weströmischen Reichs und der Etablierung der Langobarden auf dem Festland. Aber selbst wenn nun erste Hütten am Canal Grande stehen - einen einzelnen Ort, der Venedig hieß, gibt es noch nicht. Denn „Venezia“ ist der Name einer ganzen Region – und das schon seit langem. Francesco Borri: 4 Zusp. Borr: Venezia non fu una città all'origine. Venezia è il nome di una regione dell'Italia romana. L'Italia romana dei tempi di Augusto era divisa in 10 regioni. La regione di Nord-Est, la regione che comprende anche i territori dell'attuale Croazia e Slovenia, si chiamava Venezia ed Istria. Quindi il nome Venezia è il nome di una provincia che gradualmente si è spostata verso il mare. Quindi Venezia originalmente era un gruppo di più insediamenti. ZITATOR OV: Venezia war zunächst keine Stadt, sondern der Name einer Region im römischen Italien. Zu Augustus‘ Zeit hieß die nordöstliche Region Italiens „Venezien und Istrien“. Und nun ist der Name Venezien immer weiter Richtung Meer gewandert, wo er aber ursprünglich eine ganze Gruppe von Siedlungen bezeichnet hat. SPRECHER Und tatsächlich hatten andere Orte beim byzantinischen Umzug Richtung Lagune und Küste zunächst die Nase vorn. Der nächste zentrale Ort der byzantinischen Verwaltung wurde Eraclea, am Nordende der Lagune. Die Stadt soll mehrere zehntausend Einwohner gehabt haben, ein echtes Schwergewicht, und ein Hinweis darauf, wie viele Menschen zu dieser Zeit auf Schutzsuche vor den Langobarden in Bewegung geraten waren. Bald wird die Verwaltung von diesem Ort aber schon wieder verlegt – nach Malamocco – direkt auf die Sandbank, die die Lagune von der offenen Adria trennt – und nur noch gut fünf Kilometer Luftlinie vom heutigen Venedig entfernt. SPRECHERIN Dass man das heute überhaupt weiß, liegt vor allem daran, dass die Quellen hier schon von einem Funktionsträger berichten, der in späteren Zeiten untrennbar mit Venedig verbunden sein wird: dem Dogen. 5 Zusp. Karsten Ein vom oströmischen Kaiser bestimmter Vorsteher der Gemeinde… Im Lauf der Zeit entwinden dann die Venezianer der Oströmischen Zentrale in Konstantinopel die Bestallung dieses Dogen, wählen ihn. Die einflussreichen Familien wählen aus ihrem Kreise selber einen Dogen, einen Wahlmonarchen auf Lebenszeit. MUSIK SPRECHER Doch wie kommt der Doge endlich an den Canal Grande? – Gleich ist es soweit: Die nächste große Auseinandersetzung in Norditalien trifft zunächst die Langobarden: Im Jahr 774 ist ihr Reich Geschichte. Der Franke Karl, später Kaiser und „der Große“, erobert Norditalien, und die Langobarden werden ein Teil des Frankenreichs. Als Karls Sohn Pippin versucht, die Lagune gleich noch mitzuerobern, wird er jedoch zurückgeschlagen. SPRECHERIN So viel wird den Lagunenbewohnern bei diesen Auseinandersetzungen klar: Die neue Landmacht im Norden ist schlecht auf dem Wasser. Auf See ist man einigermaßen in Sicherheit. Und Konstantinopel im Osten ist zwar eine starke Seemacht – aber eben doch sehr weit weg. Man ist also Teil einer Großmacht, und trotzdem schwer kontrollierbar. Das gibt Freiräume. SPRECHER Zur Sicherheit wird der Verwaltungssitz der Region samt Dogen ins besser zu schützende Innere der Lagune verlegt. Der Ort wird schlicht „Hochufer“ genannt, riva alta. Daraus wird im Lauf der Zeit: Rialto. SPRECHERIN Aus venezianischer Sicht könnte man spätestens jetzt also sagen: Geschafft! Jetzt sitzt der Doge endlich am Rialto, am Canal Grande. Das muss Anfang des 9. Jahrhunderts gewesen sein, aus der Spätantike war das frühe Mittelalter geworden. Wie die Siedlung damals ausgesehen hat, weiß man nicht. Vermutlich gab es noch nicht einmal eine feste Brücke über den Canal Grande. Ein letzter Blick zurück: Denn Venedig wird später behaupten, ein genaues Gründungsdatum seiner Stadt zu kennen: Exakt am 25. März 421 sei die Stadt gegründet worden. Das wäre früher als alles, was man nach heutiger Forschungslage plausibel machen könnte. Dazu der Venedig-Experte Arne Karsten: 6 Zusp. Karsten Das ist, wie so viele Gründungsdaten, eine Projektion aus späteren Zeiten. Sie passte zum venezianischen Selbstverständnis, Selbstbild, insofern, als es eine Zeit ist, in der es das Imperium Romanum noch gab. Man stellte sich damit in die Tradition des großen antiken römischen Kaiserreiches. Andererseits ist im Jahre 421 schon das Christentum siegreich gewesen. Auch die christliche Tradition kann man also einbeziehen. Tatsächlich wissen wir nichts über ein Gründungsdatum. Die Vorstellung überhaupt, dass eine Stadt in einer einem so lebensfeindlichen Umfeld wie der Lagune gegründet wurde, dass Grundsteine gelegt wurden, ist auch eine ganz anachronistische und mit der historischen Realität sicherlich nicht übereinstimmende Vorstellung. SPRECHER Wie einzigartig war damals schon die Siedlung am Rialto? Auf jeden Fall ist sie auch jetzt nicht der einzige wichtige Ort in der Lagune. Da wäre etwa noch die Insel Torcello. Sie liegt rund eine Stunde mit dem Wasserbus von Venedig entfernt im Brackwasser der „laguna morta“, wo Ebbe und Flut nicht mehr zu bemerken sind. Unübersehbar dagegen ragt die Basilika Santa Maria Assunta mit ihrem 50 Meter hohen Campanile auf der fast unbewohnten Insel empor. Heute ein surrealer Anblick, doch im frühen Mittelalter war die Insel ein Zentrum der Lagune mit geschätzten 10-20.000 Einwohnern zu der Zeit, als der Doge an den Canal Grande zog. SPRECHERIN Eigentlich hätte also auch Torcello beste Karten gehabt, zum Hauptort der Lagune aufzusteigen – und wer weiß – eines Tages zur Weltmacht? Doch spätestens im 12. Jahrhundert wurde die Insel aufgegeben und die Einwohner zogen einfach um, nach Venedig und Murano. Dabei nahmen sie alles wertvolle Baumaterial mit, vor allem Stein, so dass es auf der Insel heute keine weiten Ruinenlandschaften zu besichtigen gibt. Nur die alte Kathedrale mit ihren prächtigen byzantinisch beeinflussten Mosaiken und ein Baptisterium sind übriggeblieben. SPRECHER Was ist passiert? – Möglicherweise ist Torcello einer Umweltkatastrophe zum Opfer gefallen. Eine These geht davon aus, dass im Mittelalter in diesem seichten Teil der Lagune der Süßwassereintrag gestiegen sei. Dadurch soll mehr Schilf gewachsen sein – der ideale Brutort für Moskitos. Das Leben wurde unerträglich, die Bewohner gaben auf. SPRECHERIN Nach einer anderen Überlegung lag Torcello strategisch einfach um einen Tick schlechter als der Rivale weiter im Westen der Lagune. Der Historiker Francesco Borri: 7 Zusp. Borri Torcello era un insediamento vicino alla terraferma molto vicino da Altino. Da Torcello è possibile vedere l'antica città romana. E credo che la Venezia assumesse un carattere più marittimo, si cercava un insediamento al centro della laguna, più distante dalla terraferma. ZITATOR OV Torcello liegt sehr nahe bei Altinum auf dem Festland. Die Stadt konnte man von der Insel aus sehen. Ich glaube, dass Venedig einfach den besseren Meerzugang hatte und weiter vom Festland entfernt lag. SPRECHER Die alte Römer-Stadt Altinum war inzwischen längst von Langobarden und Franken übernommen worden. In Sichtweite von Torcello hatte also die nächste Großstadt des Nachbarreichs gelegen, mit dem man in ständigen Auseinandersetzungen lag. SPRECHERIN Der politische Schwerpunkt der Provinz Venezien zieht sich also immer mehr zusammen in der Siedlung am Canal Grande, sie wird mehr und mehr - Venedig. Und dieser Siedlung war vor kurzem ein Coup gelungen, der sie in der ganzen Christenheit bekannt machen sollte. Die Stadtlegende erzählt die Ereignisse so: MUSIK SPRECHER Zur Zeit des Dogen Giustiniano Partecipazio, in den 820er-Jahren, reisen zwei venezianische Kaufleute nach Alexandria. Dort hören sie, dass der muslimische Herrscher der Stadt christliche Kirchen abreißen lassen will. Doch in einer von ihnen liegt ein unermesslicher Schatz: die Gebeine des Evangelisten Markus. Es gelingt den Kaufleuten, die Reliquien aus der Kirche zu schmuggeln. Um sie am neugierigen Zoll vorbeizubekommen, bedecken sie den Heiligen mit Schweinefleisch. Tatsächlich winken die Zöllner die für sie anrüchige Fracht schnell durch – und San Marco ist auf dem Weg nach Venedig! SPRECHERIN Was stimmt an dieser Geschichte? Das ist bis heute völlig unklar. Tatsache ist, dass die Venezianer im 9.Jahrhundert in den Besitz von Knochen kommen, für die sie eine eigene Kirche bauen: die spätere Basilica di San Marco. SPRECHER Noch ist es der Vorgängerbau, kleiner und sicher weniger prächtig, als die heute weltberühmte Kathedrale auf dem Markusplatz. Aber die Art, wie die Venezianer im 9. Jahrhundert mit diesen Reliquien umgehen, sagt schon viel über das Selbstvertrauen des jungen Aufsteigers in der Lagune aus: Der Heilige wird nicht dem Patriarchen in Grado übergeben, der auch das Oberhaupt über den Bischof in Venedig mit seinen vielen kleinen Pfarreien ist. Der Evangelist soll nämlich nicht den Ruhm der Kirche erhöhen, sondern den der Gemeinde. Die neue Markus-Kirche, die nun entsteht, wird auch nicht der Sitz des Bischofs. Dessen Kirche steht abgelegen auf San Pietro in Castello, einer Insel im äußersten Südosten der Stadt. San Marco dagegen steht zentral und ist eigentlich die Hauskapelle des Dogen. Arne Karsten: 8 Zusp. Karsten Die Möglichkeit, auf einen herausragenden Heiligen wie den Evangelisten Markus sich berufen zu können als Schutzpatron der Stadt ist in einer Zeit in der Vormoderne, in der religiöse und politische Realität schwer auflösbar ineinander aufgehen, miteinander zusammenspielen, ein ganz wesentlicher Trumpf. (…) In ganz Europa spricht man im Mittelalter - was sagt San Marco dazu? Welche Politik macht San Marco? Das ist gleichbedeutend mit welche Politik macht Venedig. SPRECHERIN Und die Geschichte von der Entführung des Heiligen aus Alexandria gibt noch eine weitere wichtige Information: Venedigs Kaufleute waren schon im 9. Jahrhundert bis nach Ägypten unterwegs. MUSIK SPRECHER Von was lebt diese Lagunenstadt überhaupt in ihren ersten Jahrhunderten? Auf jeden Fall brauchte ein wachsendes Venedig viel Geld, allein schon, um die Unmengen an Bauholz für die Unterbauten im Sumpf zu beschaffen. Anfangs lebt der Ort viel vom Handel mit Fischen und von Salinen. Salz ist damals unentbehrlich, um Nahrungsmittel haltbar zu machen. Aber bald mischt Venedig sogar im Fernhandel mit. Dabei geht es vor allem um Luxusgüter, die venezianische Kaufleute aus dem Orient für die Herrscher des Festlands im Norden beschaffen, etwa kostbare Stoffe und Gewürze. SPRECHERIN Und noch eine weitere „Ware“ wird zu einer Haupteinnahmequelle der Kaufleute am Rialto: Sklaven! Ob Christen oder Muslime, kümmert die Kaufleute wenig. Schon im Mittelalter werden sie deswegen durchaus auch scheel angesehen. Über die Jahrhunderte sollen es Millionen Menschen gewesen sein, die in Venedig verkauft wurden. SPRECHER Doch wie ist das zu erklären, dass eine kleine Kommune, die eben noch im Sumpf um die Existenz kämpfte, sich in nur zwei bis drei Jahrhunderten zu einer unübersehbaren Größe im Mittelmeerhandel aufschwingen kann? 9 Zusp. Karsten Venedig liegt halt glücklich für die Handelsbedingungen einer Zeit, die für den Transport einfach auf Menschen und Natur-Energie angewiesen ist. Sie haben ja noch keine fossilen Verbrennungsmotoren oder so was. Man muss Handel betreiben mit Menschen oder Windkraft, und das macht den Transport von Gütern über lange Strecken außerordentlich mühsam, langsam, gefährlich, teuer. Wenn man nun die raren Güter des Orients, Luxusgüter, bestimmte Gewürze, Seide möglichst lang auf dem Seeweg transportieren möchte, um sie dann nach Frankreich oder ins Heilige Römische Reich zu transportieren, dann war man gut beraten, eben möglichst weit nach Norden in die Adria hinaufzufahren. Und hier entwickelt sich Venedig dann aufgrund dieser strategisch günstigen Lage zum - neben Genua - wichtigsten Umschlagplatz für die Luxusgüter des Orients. SPRECHERIN Das ist Venedigs Erfolgsgeheimnis: Es liegt weit im Norden des Mittelmeers, und jede Seemeile Richtung Norden ist leichter und billiger zurückzulegen als die Wegstrecke über Land. Dazu liegt die Stadt auch noch genau an der Grenze zum Frankenreich, später dem Heiligen Römischen Reich. Wer die begehrten Luxusgüter aufkaufen will, hat also am besten gleich eine Handelsniederlassung in der Stadt. Der Fernhandel macht aus Venedig bald einen internationalen Ort, an dem sich Reiche und Mächtige aus der Mittelmeerwelt und von nördlich der Alpen begegnen. SPRECHER Dabei war Venedig während dieser ersten Jahrhunderte immer eindeutig ein Teil des Byzantinischen Reichs SPRECHERIN Doch das Verhältnis zu Byzanz läuft auf eine tragische Wende zu. Während Konstantinopel im Mittelmeer durch die Normannen und vor allem durch die aufblühende muslimische Welt immer stärker unter Druck gerät, wird Venedig immer reicher. Die ferne Provinz im Westen wird für Byzanz mehr und mehr zum Bündnispartner - und zum Konkurrenten, der sich seine Hilfe durch Handelsprivilegien und durch besonders günstige Zolltarife teuer bezahlen lässt. SPRECHER Im Jahr 1204, beim Vierten Kreuzzug, endet das immer gespanntere Verhältnis in einer Katastrophe. In Venedig hat sich ein Kreuzfahrerheer gesammelt. Doch der Glaubenskrieg gegen das Heilige Land kommt nicht in Gang. Was also anfangen mit diesem riesigen Heerhaufen, den Venedig nur auf Schiffe verfrachten muss, um ihn zum Einsatz zu bringen? MUSIK SPRECHERIN Da passiert es: Wegen innerer Machtkämpfe ruft Konstantinopel das Heer zu Hilfe. Doch als Venedigs Schiffe vor Ort ankommen, wird die versprochene Summe nicht bezahlt. Es sind vor allem venezianische Forderungen, die jetzt mit schockierender Skrupellosigkeit eingelöst werden. Konstantinopel wird erobert und geplündert. Die Stadt erlebt ein tagelanges Blutbad. SPRECHER Venedig sichert sich einen großen Teil des oströmischen Territoriums, des Reichs, zu dem es eigentlich selbst gehörte. Ein Triumph? Arne Karsten: 11 Zusp. Karsten Nun, das Problem ist natürlich, dass hier eine christliche Hauptstadt von einem christlichen Heer, das eigentlich zum Kampf gegen die Muslime im Heiligen Land zur Rückeroberung Jerusalems ausgezogen war, erobert wird. Das Ganze wird von Papst Innozenz III. mit schweren Kirchenstrafen belegt. Das ist in der Folgezeit in der ansonsten so sehr intensiv gepflegt venezianischen Erinnerungskultur, in der historische Erfolge gerne gefeiert werden, durch aufwendige Gemälde, durch eine bald auch einsetzende, wirklich städtische Geschichtsschreibung, eine lange Zeit eher totgeschwiegener Punkt. MUSIK SPRECHERIN Trotzdem ist Venedig nun unbestritten eine Großmacht auf eigene Faust. Noch würde man wenig von der Stadt erkennen, die heute Touristenströme aus aller Welt begeistert. Noch nicht einmal der Markusdom mit seinem byzantinischen Flair ist fertig. Die große Zeit der venezianischen Republik mit ihren großartigen Renaissance-Bauten wird jetzt erst beginnen. Aber aus der Gründung im Sumpf ist ein global player geworden.…
Der erste Sozialdemokrat im Kanzleramt versöhnt Ost und West und viele Deutsche mit der deutschen Vergangenheit. Dafür wird Brandt gefeiert wie ein Popstar. Doch dann kam der schnelle Absturz. Bedeutet sein Fall, dass Charisma in der Politik völlig überschätzt ist? Von Birgit Frank (BR 2021) Credits Autorin: Birgit Frank Host: Christine Auerbach Regie: Helen Malich Ton & Technik: Regina Staerke Sounddesign: Martha Bahr Redaktion: Till Ottlitz Redaktions-Team: Birgit Frank, Ingo Lierheimer, Linus Lüring, Katja Paysen-Petersen, Klaus Uhrig Besonderer Linktipp der Redaktion: BR (2025): Kanzlercast Er hat dafür gesorgt, dass viele auf der Welt ein neues deutsches Wort kennen: Zeitenwende: Olaf Scholz. Dass er wirklich Kanzler wird, das hat damals viele überrascht. Wie hat er es trotzdem geschafft? Und dann, kurz nach der Wahl, war der neunte Kanzler der Bundesrepublik plötzlich Kriegskanzler. Was hat das verändert? Und was bleibt von dem Mann, dessen Accessoire eine Aktentasche ist? Das erzählt der „Kanzlercast“ – dem Podcast über die Menschen im wichtigsten Amt in Deutschland. Von Adenauer – bis eben Scholz. ZUM PODCAST Linktipps: radioWissen (2024): Die frühe Bundesrepublik – Die 50er Jahre Die 1950er sind nicht nur WM-Sieg, Wirtschaftswunder und biedere Heimatfilme. Die Jahre der Besinnung aufs private Familienglück sind gleichzeitig die Zeit, in der größere Demonstrationen stattgefunden haben als 1968. Die grundlegenden Fragen, wie wir zusammen leben wollen, müssen erst verhandelt werden. Und die Jugendliche werden aufmüpfig. JETZT ANHÖREN radioWissen (2024): Utopie und Ernüchterung – Die 70er Jahre Die Siebziger Jahre begannen grenzenlos optimistisch, was sich auch in Design, Musik und Architektur widerspiegelte. Doch die Ölpreiskrise 1973 läutete das Ende des Nachkriegsbooms ein, und eine allgemeine Zukunftsangst begann um sich zu greifen. Ein Jahrzehnt zwischen Aufbruch und Krise. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN…
Nach dem Krieg verankert Konrad Adenauer die Bundesrepublik quasi im Alleingang fest in Westeuropa und der Nato. Aber hat er damit die historische Chance verspielt, dass die Berliner Mauer niemals gebaut worden wäre? Von Johannes Berthoud (BR 2021) Credits Autor: Johannes Berthoud Host: Christine Auerbach Regie: Helen Malich Ton & Technik: Regina Staerke Sounddesign: Martha Bahr Redaktion: Till Ottlitz Redaktions-Team: Birgit Frank, Ingo Lierheimer, Linus Lüring, Katja Paysen-Petersen, Klaus Uhrig Besonderer Linktipp der Redaktion: BR (2025): Kanzlercast Er hat dafür gesorgt, dass viele auf der Welt ein neues deutsches Wort kennen: Zeitenwende: Olaf Scholz. Dass er wirklich Kanzler wird, das hat damals viele überrascht. Wie hat er es trotzdem geschafft? Und dann, kurz nach der Wahl, war der neunte Kanzler der Bundesrepublik plötzlich Kriegskanzler. Was hat das verändert? Und was bleibt von dem Mann, dessen Accessoire eine Aktentasche ist? Das erzählt der „Kanzlercast“ – dem Podcast über die Menschen im wichtigsten Amt in Deutschland. Von Adenauer – bis eben Scholz. ZUM PODCAST Linktipps: radioWissen (2024): Die frühe Bundesrepublik – Die 50er Jahre Die 1950er sind nicht nur WM-Sieg, Wirtschaftswunder und biedere Heimatfilme. Die Jahre der Besinnung aufs private Familienglück sind gleichzeitig die Zeit, in der größere Demonstrationen stattgefunden haben als 1968. Die grundlegenden Fragen, wie wir zusammen leben wollen, müssen erst verhandelt werden. Und die Jugendliche werden aufmüpfig. JETZT ANHÖREN radioWissen (2024): Utopie und Ernüchterung – Die 70er Jahre Die Siebziger Jahre begannen grenzenlos optimistisch, was sich auch in Design, Musik und Architektur widerspiegelte. Doch die Ölpreiskrise 1973 läutete das Ende des Nachkriegsbooms ein, und eine allgemeine Zukunftsangst begann um sich zu greifen. Ein Jahrzehnt zwischen Aufbruch und Krise. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN…
Nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl 1943 beschlossen der Student Hans Leipelt und seine Freundin Marie-Luise Jahn deren Widerstand gegen die NS-Diktatur fortzusetzen. Sie fanden Unterstützung in einem losen Netzwerk regimekritischer Freundes- und Familienkreise in Leipelts Heimatstadt Hamburg. Nur ein Teil von ihnen überlebte den NS-Terror. Von Renate Eichmeier (BR 2022) Credits Autorin: Renate Eichmeier Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Katja Amberger, Johannes Hitzelberger Technik: Susanne Herzig Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Angela Bottin Linktipps: BR (2018): Widerstand als Familienerbe Sie gelten als Ikonen des Widerstands, die Mitglieder der „Weißen Rose“, die gegen das nationalsozialistische Regime kämpften. Am 22. Februar 1943, wurden die Widerstandskämpfer Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst zum Tode verurteilt und hingerichtet. Für ihren Mitstreiter Willi Graf prüft das Erzbistum München und Freising derzeit ein Seligsprechungsverfahren. Auch heute ist Widerstand geboten, bei Verletzung der Menschenwürde, menschenverachtender Politik und Ungerechtigkeit. Doch wie ist Widerstand überhaupt möglich? Wann beginnt Widerstand? Und welche Rolle spielt die Religion dabei? JETZT ANSEHEN Tatort Geschichte (2021): Die letzten Tage der Weißen Rose Ihren mutigen Widerstand gegen das NS-Terrorregime bezahlten Sophie Scholl, Hans Scholl und Christoph Probst von der Weißen Rose mit dem Leben. Von ihrem Auffliegen bis zur Vollstreckung des Todesurteils vergingen nur vier Tage. Wir zeichnen diese nach und beleuchten die Personen, die an ihrer Verurteilung maßgeblich beteiligt waren. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK SPRECHER: Kommilitoninnen! Kommilitonen! SPRECHERIN: Nach der verheerenden Niederlage der deutschen Wehrmacht in Stalingrad richtete sich die Widerstandsgruppe Weiße Rose im Februar 1943 mit einem Flugblatt an die Münchner Studentenschaft. SPRECHER: Erschüttert steht das deutsche Volk vor dem Untergang der Männer in Stalingrad. Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer sind sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben geführt worden, ist auf dem Flugblatt zu lesen und: Es gibt jetzt nur eine Parole: Kampf gegen die Partei! Heraus aus den Parteiorganisationen, aus den Hörsälen der SS-Führer und Parteikriecher! SPRECHERIN: Das sechste Flugblatt war das letzte, das die Mitglieder der Münchner Weißen Rose verbreiteten. Hans und Sophie Scholl wurden bei der Verteilung an der Universität im Februar 1943 festgenommen und einige Tage später hingerichtet. Das Flugblatt war in die Hände von Hans Leipelt gelangt, der in München Chemie studierte. In den Osterferien fuhr er in seine Heimatstadt Hamburg, wo seine Familie und Freunde bei der Weiterverbreitung des Flugblattes halfen. Diese waren Teil eines losen Netzwerkes regimekritischer Menschen, das bereits seit 1942 Kontakte zur Weißen Rose nach München hatte. MUSIK Viele bezahlten einen hohen Preis für ihre oppositionelle Haltung: Inhaftierungen, Misshandlungen, Todesurteile. Hans Leipelt wurde Ende Januar 1945 hingerichtet. Wer waren die Menschen der Hamburger Weißen Rose? O1 BOTTIN 25'' Hans Leipelt ist ja 1921 in Wien geboren, und seine Mutter war promovierte Chemikerin, die 1918 vom jüdischen zum evangelischen Glauben konvertiert war, aber in einem ganzen Verbund von Menschen und Freunden lebte, wo sich eigentlich alles zusammen fand in – ja, toleranter Weltoffenheit. SPRECHERIN: Die Juristin Angela Bottin hat sich intensiv mit der Familiengeschichte von Hans Leipelt und anderer NS-Verfolgter in Hamburg beschäftigt. O2 BOTTIN 10'' Katharina Baron, wie Sie ursprünglich hieß, traf als berufstätige Frau in Wien den Katholischen Diplom-Ingenieur Conrad Leipelt. MUSIK SPRECHERIN: Die beiden heirateten, zogen nach der Geburt von Hans nach Hamburg, wo Conrad Leipelt zum Direktor der Zinnwerke Wilhelmsburg aufstieg. Dort kam 1925 Maria zur Welt, die Schwester von Hans. Die Leipelts führten einen großbürgerlichen Lebensstil mit offenem Haus und großem Bekanntenkreis, pflegten enge Kontakte zur jüdischen Verwandtschaft in Österreich und förderten ihre Kinder, die beide sehr begabt waren. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten nahm der antisemitische Druck auf die Familie zu. Obwohl die Mutter zum Protestantismus konvertiert war, galt sie in der rassistischen Weltsicht der Nationalsozialisten als Jüdin. Da der Vater keinen jüdischen Hintergrund hatte, verlief das Leben von Hans und seiner Schwester vorerst ohne Einschränkungen. O3 BOTTIN 41'' Hans Leipelt hat mit 16 Jahren Abitur gemacht in Hamburg. Und Reichsarbeitsdienst und Wehrdienst war natürlich für ihn wie für alle verpflichtend, wenn er studieren wollte – und das wollte er natürlich. Und er hat sich dann, um nicht zwei Jahre warten zu müssen, freiwillig in Anführungszeichen gemeldet. Zuerst zum Reichsarbeitsdienst und dann zur militärischen Ausbildung, damit er keine Zeit verlor. Sein Einsatz im Reichsarbeitsdienst beim sogenannten Bau des Westwalles, der für Nazi-Deutschland ja ausgesprochen wichtig war, war eine überaus strapaziöse und im Grunde entsetzliche Zeit. MUSIK SPRECHERIN: Kurz bevor Hans Leipelt seinen Arbeitsdienst an der Westgrenze begann, marschierten die deutschen Truppen in Österreich ein. Mit katastrophalen Folgen für seine jüdische Verwandtschaft in Wien. Sein Onkel, der Bruder seiner Mutter Katharina, beging Selbstmord. Seine Großeltern flüchteten in die Tschechoslowakei, wo sein Großvater starb. Daraufhin kam seine Oma Hermine nach Hamburg. Im November 1938 begann Hans seine Ausbildung bei der Wehrmacht, war ab Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 zuerst in Polen, dann in Frankreich im Einsatz. Trotz Auszeichnungen wie dem Eiserne Kreuz II. Klasse wurde er im August 1940 als sogenannter "jüdischer Mischling" aus der Wehrmacht entlassen und begann in Hamburg mit dem Chemie-Studium. In Frankreich hatte er Karl Ludwig Schneider kennengelernt, ebenfalls Hamburger, ebenfalls anti-nazistisch eingestellt. Zwischen den beiden entwickelte sich eine enge Freundschaft. Schneider war als Schüler auf der reformpädagogischen Lichtwark-Schule gewesen. Aus privaten Lese- und Diskussionszirkeln der Lehrerin Erna Stahl entwickelte sich der Kern des regimekritischen Netzwerkes, das von der Forschung später als Weiße Rose Hamburg bezeichnet wurde. Neben Karl Ludwig Schneider spielten Traute Lafrenz, Heinz Kucharski und Margaretha Rothe eine wichtige Rolle. Sukzessive wuchs das Netzwerk, kamen gleichgesinnte Männer und Frauen hinzu und mit ihnen ihre Freunde und Angehörigen: Etwa der Medizinstudent Albert Suhr mit befreundeten Ärzten und Ärztinnen aus dem Universitäts-Krankenhaus Eppendorf, der Buchhändler und Philosophiestudent Reinhold Meyer - und eben auch Hans Leipelt und seine Familie. Hans Leipelt und die Medizinstudentin Traute Lafrenz fungierten später als Verbindungsglieder zwischen dem Münchner und dem Hamburger Widerstands-Netzwerk. Vorerst aber traf man sich zu Diskussionsrunden, feierte bei verbotener Jazzmusik, hörte gemeinsam ausländische Sender, las regimekritische Literatur – und amüsierte sich mit eigenen satirischen Texten gegen die NS Machthaber. MUSIK SPRECHER: Hans Leipelt habe, so der Oberreichsanwalt in seiner Anklageschrift vom Juli 1944, mit seiner Schwester Maria und Karl Ludwig Schneider Texte verfasst und bei privaten Zusammenkünften aufgeführt, die eine ausgesprochen staatsfeindliche Tendenz hatten. Außerdem habe Leipelt in Gesprächen immer die Ansicht vertreten, dass Deutschland den Krieg begonnen habe und deshalb die zerstörten Städte in der Sowjetunion wiederaufbauen müsse. Hans Leipelt habe ausländische Hetznachrichten gehört und darauf vertraut, dass die Feindmächte die Verhältnisse in Deutschland in seinem Sinne ändern. Außerdem sei er mit seinen Freunden darin übereingekommen, dass sie dabei mithelfen müssten, den Nationalsozialismus zu vernichten. SPRECHERIN: Die Anklageschrift von 1944 ist eines der wenigen Dokumente, die Aufschluss über die Aktivitäten von Hans Leipelt und seinem Freundeskreis geben. Zu den Ermittlungen gegen andere Mitglieder der Weißen Rose in Hamburg ist wenig überliefert – so Angela Bottin: O4 BOTTIN 16'' Es gibt kaum Verfolgungs-Dokumente, also Vernehmungsprotokolle und Unterlagen aus dieser Zeit. Wir wissen, dass in Hamburg die Gestapo vor dem Einmarsch der Briten im Mai 1945 systematisch vieles noch vernichtet hat. SPRECHERIN: Selbstauskünfte oder eigene Schriften gibt es nur von einigen des Hamburger Netzwerkes – etwa von Leipelts engem Freund Karl Ludwig Schneider oder auch von dem Buchhändler Reinhold Meyer. Von Hans Leipelt selbst ist kaum etwas greifbar. Er war nicht nur als regimekritischer Student in den Fokus der Nationalsozialisten geraten. Wegen der jüdischen Wurzeln seiner Mutter wurde seine Familie genauso brutal verfolgt wie alle anderen jüdischen Familien. O5 BOTTIN 17'' Alles, was diese Familie besaß in ihrem Haus wurde – ja, vom Staat übernommen, verwertet, versteigert, öffentlich versteigert und wie bei allen anderen, wurden persönliche Dokumente vernichtet. Und das ist das große Problem auf den Spuren von Hans Leipelt. MUSIK SPRECHER: Ein neues Gesicht im Chemischen Labor habe sie im Winter 1941 neugierig gemacht, schrieb Marie-Luise Jahn später über ihre Studienzeit in München. Es war Hans Leipelt, der sie faszinierte mit seiner Art über Bücher zu sprechen – über Bücher, die seit 1933 verboten waren. SPRECHERIN: Zwischen den beiden entwickelte sich eine Liebesgeschichte. SPRECHER: Gemeinsame Spaziergänge im Englischen Garten folgten, so die Erzählung von Marie-Luise Jahn, zahlreiche Umzüge, weil sie gegen das Verbot von sogenannten "Herrenbesuchen" abends verstießen, gemeinsames Hören von verbotener Jazzmusik, laut aus dem Koffergrammophon auf dem Fensterbrett … SPRECHERIN: Nach seiner Entlassung aus der Wehrmacht hatte Hans Leipelt zum Wintersemester 1940/41 zunächst in Hamburg mit dem Chemiestudium angefangen – unter schwierigen Bedingungen, so Angela Bottin. O6 BOTTIN 36'' Man muss vielleicht noch ergänzen zum Verständnis, dass Hans Leipelt nicht einfach mit seinem Studium beginnen konnte. Er brauchte eine – wie alle Mischlinge ersten Grades – eine Ausnahme-Genehmigung durch das Reichs-Erziehungsministerium. Das war ein erniedrigender Prozess, dem er sich unterwerfen musste, und er erlebte dann in Hamburg kurze Zeit später doch sehr viel antisemitische diskriminierende Ereignisse. Und das war der Grund, warum er den Studienort wechselte, obwohl das bedeutete, weit weg von der sehr bedrohten Familie zu sein. SPRECHERIN: So war Hans Leipelt nach München gekommen. Am chemischen Institut an der Münchner Universität herrschte eine offene Atmosphäre. Professor Heinrich Wieland hatte 1927 den Nobelpreis bekommen, nutzte seine Prominenz und akzeptierte auch sogenannte "nichtarische" Studenten und Studentinnen. Auch Marie-Luise Jahn studierte in München. Die Juristin Angela Bottin: O7 BOTTIN 36'' Sie hat dann in dem Staatslaboratorium, dem chemischen Institut unter der Leitung von Professor Heinrich Wieland, erst mal näher kennengelernt, dass es Menschen gab, die besonderen Schutz brauchten, eben die dort von Heinrich Wieland nicht ausgeschlossenen, sogenannten Mischlinge ersten Grades. Marie-Luise Jahn kam aus einer anderen Welt. Sie war Tochter einer Gutsbesitzerfamilie in Ostpreußen, hatte Privatunterricht gehabt, war sehr behütet, hatte dann in Berlin Abitur gemacht und war dann nach München gekommen und hatte begonnen, Chemie zu studieren. SPRECHER: Das Vordiplom im Sommer 1942 sei nicht gut ausgefallen, schrieb Marie-Luise Jahn in ihren Erinnerungen, da sie sich lieber mit Hans getroffen hat, anstatt zu lernen. Die beiden haben ihre Freundschaft ganz offen gezeigt, sind Arm in Arm durchs Chemische Labor gelaufen. Ein regimetreuer Kommilitone habe sie beim NS Studentenführer denunziert. Allerdings sei außer einer Standpauke nichts weiter passiert – was, wie sie später erfuhr, damit zu tun hatte, dass Professor Wieland zu ihren Gunsten eingegriffen hatte. MUSIK SPRECHERIN: Den Sommer 1942 verbrachte Marie-Luise Jahn zuhause bei ihrer Familie in Ostpreußen – und Hans Leipelt bei seiner Familie in Hamburg. Die Situation hatte sich dramatisch verschlechtert. Maria, die Schwester von Hans, musste wegen ihres jüdischen Hintergrundes das Gymnasium verlassen. Die Großmutter wurde ins KZ Theresienstadt deportiert. Und im September 1942 starb der Vater überraschend. Für die Mutter fiel damit der Schutz weg, den sie durch ihren nicht-jüdischen Mann hatte. Hans kümmerte sich um die Beerdigung seines Vaters. O8 BOTTIN 25'' Das bedeutete aber, dass er sehr, sehr viel mehr Zeit in Hamburg verbracht hat als als Student in München. Und dadurch ist es auch Marie Luise gar nicht sozusagen präsent gewesen, was alles auch in Hamburg passierte. SPRECHERIN: Neben Hans Leipelt pendelte ein weiteres Mitglied des Hamburger Netzwerkes zwischen München und Hamburg: Traute Lafrenz, ehemalige Schülerin der Lichtwark-Schule, befreundet mit Heinz Kucharski und Margaretha Rothe, studierte mittlerweile in München Medizin. Sie war eng mit Hans Scholl befreundet, mit dem sie kurzzeitig auch liiert war, und kannte auch andere Mitglieder des Münchner Widerstandsnetzwerkes, Sophie Scholl, Professor Kurt Huber und Alexander Schmorrell, den sie bereits drei Jahre vorher während ihres Reichsarbeitsdienstes in Ostpommern kennengelernt hatte. Unter dem Eindruck der brutalen Kriegsverbrechen im Osten hatten die Münchner im Sommer vier Flugblätter verfasst und verbreitet. Sie nannten sich Weiße Rose und riefen zum Widerstand gegen das NS Regime auf. Als Traute Lafrenz im November 1942 auf Heimatbesuch nach Hamburg kam, brachte sie eines dieser Flugblätter mit und gab es ihrem alten Freundeskreis. Heinz Kucharski, Margaretha Rothe, Reinhold Meyer, Albert Suhr hatten das Flugblatt in Händen, diskutierten und verteilten es. Ob auch Hans Leipelt das Flugblatt kannte, lässt sich nicht nachweisen, ist aber wegen seiner engen Beziehungen ins Hamburger Netzwerk anzunehmen. In den Erinnerungen von Marie-Luise Jahn findet sich nichts darüber. Dazu Angela Bottin. O9 BOTTIN 45'' Sie hat als einzige eigentlich – Hans Leipelt konnte es nach seiner Ermordung ja natürlich nicht mehr: sie hat, sagen wir mal, eine Wir-Geschichte, Hans Leipelt und Marie-Luise Jahn, ab Mitte der 1980er Jahre entwickelt. Je mehr man über die komplexen Zusammenhänge, die es tatsächlich gegeben hat, herausfindet – dann erkennt man das diese Wir-Geschichte eben doch vieles außer Acht lässt, was zur Wirkungsgeschichte und zum Leben und Sterben von Hans Leipelt im Besonderen und der weiteren, mit ihm verbündeten aktiven Menschen in München und Hamburg tatsächlich geschah. MUSIK SPRECHERIN: Über Flugblätter zum Widerstand aufzurufen war lebensgefährlich. Alle zusätzlichen Mitwissenden erhöhten das Risiko, entdeckt zu werden. Ihren Erinnerungen zufolge wurde Marie-Luise Jahn erst ab 1943 von Hans Leipelt in seine Oppositionsaktivitäten eingebunden. Hans Leipelt, der zwischen Hamburg und München pendelte, war laut Marie-Luise Jahn am 13. Januar 1943 in München, als es im Kongresssaal des Deutschen Museums zu spontanen Studentenprotesten kam. Gauleiter Paul Giesler hatte in seiner Rede im Rahmen der 470 Jahrfeier der Münchner Universität beleidigende Äußerungen über studierende Frauen gemacht. Unter Protest verließen viele der Anwesenden, darunter viele Soldaten in Uniform, den Saal und lieferten sich Handgreiflichkeiten mit den Ordnungskräften. SPRECHER: Das sei ein Hoffnungsschimmer gewesen, dass endlich etwas passieren würde – so Marie-Luise Jahn in ihren Erinnerungen. Hans sei bei der Veranstaltung gewesen und habe ihr freudestrahlend von dem Protest der Studenten gegen die unverschämte Rede des Gauleiters erzählt. Sie dachten, so Marie-Luise Jahn, dass ein Aufstand der Studenten folgen würde. SPRECHERIN: Aber nichts dergleichen geschah. Auch nicht als Ende Januar 1943 die Schlacht um Stalingrad mit einer verheerenden Niederlage der deutschen Wehrmacht endete und das sechste Flugblatt der Weißen Rose in München zum Widerstand gegen die NS-Diktatur aufrief. Den Text hatte größtenteils Professor Huber verfasst. Die meisten der Flugblätter wurden per Post verschickt. Als Hans und Sophie Scholl den Rest an der Münchner Universität verteilten, wurden sie verhaftet. SPRECHER: Eines Morgens sei Hans Leipelt mit dem Flugblatt in der Hand zu ihrem Laborplatz im Chemischen Institut gekommen, schrieb Marie-Luise Jahn in ihren Erinnerungen. Gemeinsam haben sie es gelesen und waren beeindruckt, dass jemand gewagt hatte, das zu schreiben. Sie waren der gleichen Meinung, hätten aber nie gewagt, das offen zu sagen, geschweige denn zu schreiben. Hier hatte jemand den Mut, sich öffentlich gegen das Unrechts- und Willkürregime der Nationalsozialisten aufzulehnen. MUSIK Hinter vorgehaltener Hand, so Marie Luise Jahn machten Gerüchte über Verhaftungen im Chemischen Institut die Runde. SPRECHERIN: Am 22. Februar 1943 wurden Hans Scholl, Sophie Scholl und Christoph Probst in München hingerichtet. SPRECHER: Ihre Hoffnungen hätten ein jähes Ende gefunden, so Marie Luise Jahn über die verzweifelte Stimmung, in der sie und Hans Leipelt waren. Sie hatten das Flugblatt, aber die es geschrieben hatten, waren von den Nazis dafür hingerichtet worden. Wer sollte nun den Menschen die Augen öffnen? Wer die Wahrheit über das verbrecherische Regime sagen? Und ihnen beiden war klar, dass sie weitermachen müssten. Sie tippten das Flugblatt mit vielen Durchschlägen ab. Um die Verbundenheit mit den Ermordeten zu zeigen, wählten sie als Überschrift: "… und ihr Geist lebt trotzdem weiter." SPRECHERIN: Das sechste Flugblatt und weitere regimekritische Schriften im Gepäck fuhr Marie-Luise Jahn in den Osterferien mit Hans Leipelt nach Hamburg, lernte dort seine Mutter, seine Schwester Maria und auch seine Freunde Karl Heinz Schneider und Heinz Kucharski kennen, bevor sie zu ihrer Familie nach Ostpreußen weiterreiste. Leipelts Hamburger Freundeskreis sorgte für eine Vervielfältigung und Weiterverbreitung des Münchner Flugblattes. SPRECHER: Nach den Osterferien, so Marie-Luise Jahn, sei sie mit dem beklemmenden Gefühl nach München zurückgefahren, ihr bisher behütetes Leben verloren zu haben. MUSIK SPRECHERIN: Die Situation für die antinazistischen Netzwerke in München und Hamburg verschärfte sich. Bereits im März 1943 war Traute Lafrenz im Rahmen der Ermittlungen gegen die Weiße Rose in München verhaftet worden. Im Juli wurden Alexander Schmorell und Professor Kurt Huber hingerichtet. Um die mittellose Familie des letzteren zu unterstützen, beteiligten sich Hans Leipelt und Marie-Luise Jahn an Geldsammlungen, wurden schließlich denunziert und im Oktober 1943 verhaftet – und mit ihnen sieben weitere Personen aus ihrem Münchner Freundeskreis, die meisten davon Studierende am Chemischen Institut. Auch in Hamburg folgte Verhaftung auf Verhaftung: Albert Suhr, Maria Leipelt, die Schwester von Hans, Heinz Kucharski, Margaretha Rothe, Karl Ludwig Schneider, Reinhold Meyer und auch die Mutter von Hans, Katharina Leipelt. Ende 1943 waren die zentralen Akteure des Hamburger Netzwerkes in Haft. MUSIK SPRECHER: Er beschuldige Hans Leipelt, so der Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof in seiner Anklageschrift: der Vorbereitung zum Hochverrat in Tateinheit mit Wehrkraftzersetzung, Feindbegünstigung und Rundfunkverbrechen. SPRECHERIN: Am 13. Oktober 1944, etwa nach einem Jahr Untersuchungshaft in München-Stadelheim, fand der Prozess gegen Hans Leipelt und seinen Münchner Freundeskreis statt. Wegen der Luftangriffe auf München wurde er nach Donauwörth verlegt. SPRECHER: Laut Anklageschrift wurde Hans Leipelt vorgeworfen, dass er in Gesprächen staatsfeindliche, zum Teil auch kommunistische Positionen propagiert habe, dass er ausländische Sender gehört und ein Flugblatt der Weißen Rose weiterverbreitet habe, in dem zur Sabotage der Rüstung und zum Sturz der nationalsozialistischen Staatsführung aufgerufen wurde. In Gesprächen habe er die Geschwister Scholl als Märtyrer gefeiert und seine Bewunderung für sie zum Ausdruck gebracht. Außerdem habe er in seinem Hamburger Freundeskreis über die Möglichkeiten von Terror- und Sabotageakten beratschlagt, etwa eines Sprengstoffanschlages auf eine wichtige Eisenbahnbrücke. Und schließlich habe er für die Hinterbliebenen des zum Tode verurteilten Professor Kurt Huber Geld gesammelt und auch selbst gespendet. MUSIK SPRECHERIN: Hans Leipelt wurde zum Tode, Marie-Luise Jahn zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Am 29. Januar 1945 wurde Hans Leipelt in München-Stadelheim hingerichtet. Aus dem Umfeld des Hamburger Netzwerkes kamen acht Menschen ums Leben – darunter Katharina Leipelt, die Mutter von Hans, Margaretha Rothe und Reinhold Meyer. Von Familie Leipelt überlebte als einzige Maria, die Schwester von Hans.…
Vor dem Völkermord im Osten begannen die Nationalsozialisten mit der mörderischen Umsetzung ihrer rassistischen Ideologie im Reichsgebiet. Sie töteten Tausende von Kranken und Behinderten im Rahmen der sogenannten Aktion T4. Von Renate Eichmeier (BR 2018) Credits Autorin: Renate Eichmeier Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann Technik: Fabian Zweck Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Gerrit Hohendorf Linktipps: BR (2024): Ohne Gnade - Euthanasie im Nationalsozialismus Anhand von drei Opferbiografien zeichnet "Ohne Gnade" das perfide System der Euthanasie im Nationalsozialismus nach und begleitet Angehörige auf ihrer Suche nach der Wahrheit. JETZT ANSEHEN SR (2024): NS-Ärzte, ihre Verbrechen, ihre Karrieren Sie experimentierten für ihre Forschungszwecke mit Menschenleben, setzten skrupellos die Ideologie des NS-Regimes um. Deutsche Mediziner agierten als willige Erfüllungsgehilfen des „Dritten Reichs“. Allein 350.000 Menschen wurden damals durch ihre biologisch und juristisch willkürlichen Einordnungen als minderwertig abgestempelt und zwangssterilisiert. Viele verantwortliche Mediziner konnten nach dem Krieg 1945 aber ungehindert ihre Karrieren fortsetzen. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ERZÄHLER: Martin B., Schuhmachermeister, geboren 1901, erkrankt als Jugendlicher 1918 an einer Gehirnentzündung und leidet jahrelang unter den Folgen: Parkinson-Symptome wie Zittern der linken Hand, später auch Nachziehen des linken Beines. Ab 1926 ist der junge Familienvater wiederholt in Behandlung in einer psychiatrischen Klinik in Tübingen, arbeitet nach seiner Entlassung immer wieder als Schuhmacher. Im September 1938 weist ihn der behandelnde Arzt in die Heilanstalt Schussenried ein. Anfang Mai 1940 schreibt er eine letzte Postkarte an seine Familie. Zwei Monate später erhalten seine Frau und seine Kinder einen sogenannten „Trostbrief“ aus der Anstalt Schloss Grafeneck bei Reutlingen, in dem sie mit Bedauern darüber informiert werden, dass Martin B. an einem Hirnschlag gestorben sei. O-TON1 HOHENDORF 18‘‘ Aktion T4 bedeutet die systematische Erfassung, Selektion und Vernichtung der Patienten in psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches in den Jahren 1939 bis 1941. ERZÄHLER: Ballastexistenzen – Rassenhygiene – Erbkranke – lebensunwertes Leben – Aufartung – Erbgesundheit – Volkskörper – minderwertige Erbmasse – Euthanasie – Gnadentod ERZÄHLERIN: T4 ist das Kürzel für die Tiergartenstraße 4 in Berlin und war die Adresse einer eleganten Stadtvilla aus der Gründerzeit, die sich nahe der heutigen Philharmonie befand. Im Auftrag der „Kanzlei des Führers“, einer Dienststelle, die Adolf Hitler unmittelbar unterstand, waren dort ab 1940 Verwaltungsbeamte, Sachbearbeiter, Sekretärinnen, Fahrer und Ärzte mit einer sogenannten „Geheimen Reichssache“ beschäftigt: Unter dem Tarnnamen „Zentraldienststelle T4“ organisierten sie die Ermordung von etwa siebzigtausend Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht waren. Dazu der Medizinhistoriker Gerrit Hohendorf. O-TON2 HOHENDORF 1‘ 05‘‘ Wie bei vielen anderen nationalsozialistischen Massenvernichtungsaktionen auch gibt es hier nicht so etwas wie einen eindeutigen Befehl, eine eindeutige Anordnung. Es gibt die Euthanasie-Ermächtigung von Adolf Hitler, rückdatiert auf den 1. September 1939, den Tag des Kriegsbeginns, aber wahrscheinlich im Oktober 1939 verfasst, die namentlich zu bestimmende Ärzte ermächtigen sollte, bei kritischer Prüfung des Gesundheitszustandes den Gnadentod zu gewähren. Das klingt jetzt zunächst einmal sehr human, war aber eigentlich eine verklausulierte Formulierung, dass sich innerhalb der Psychiatrie ein Expertenkreis bilden sollte, der das Programm zur Vernichtung lebensunwerten Lebens plant und ausführt. ERZÄHLERIN: Die Idee vom sogenannten „lebensunwerten Leben“ war keine nationalsozialistische Erfindung, sondern lässt sich zurückverfolgen ins 19. Jahrhundert. Auf dem Hintergrund von Kolonialismus und aufstrebenden Naturwissenschaften braute sich ein explosives Gedankengemisch zusammen, das biologistische Vorstellungen zu gesellschaftlichen Maßstäben machte. Sozialdarwinisten wie der britische Soziologe Herbert Spencer prägten Begriffe wie den vom „survival of the fittest“, wörtlich dem „Überleben der Passendsten“. Autoren wie der Franzose Arthur Gobineau fantasierten von Ariern und dem unterschiedlichen Wert von menschlichen Rassen. Ärzte wie der Deutsche Alfred Plötz beschäftigten sich mit der in Mode gekommenen „Eugenik“, sprich: „Erbgesundheitslehre“, in der es um die Verbesserung des menschlichen Erbgutes ging. Und die Diskussionen um Sterbehilfe, ursprünglich gedacht als Erlösung für Schwerkranke, verlagerten ihren Fokus zusehends auf eine Pflicht zum Tod für all diejenigen, die der Gesellschaft keinen ökonomischen Nutzen brachten. Begriffe wie „Rassenhygiene“ und „lebensunwertes Leben“ etablierten sich und kursierten weltweit in wissenschaftlich verbrämten Diskussionen. ERZÄHLER: 1920 veröffentlichte Alfred Hoche, Professor für Psychiatrie in Heidelberg, gemeinsam mit dem Juristen Karl Bindung in dem renommierten Wissenschaftsverlag Felix Meiner in Leipzig ein Buch mit dem Titel: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“; in dem befürworteten die beiden Autoren neben der Sterbehilfe für Schwerkranke auch die Tötung von Zitat: „geistig toten Menschen“. Darunter subsummierten sie Menschen mit den verschiedensten geistigen, psychischen oder körperlichen Handicaps, die als „Ballastexistenzen“ der Gesellschaft Geld kosten und ihr schaden würden. ERZÄHLERIN: Sozialdarwinistische und rassistische Vorstellungen eskalierten in der nationalsozialistischen Ideologie zu einer Extremform. Auf der einen Seite das arische Ideal des germanischen Herren-Menschen: blond, blauäugig, stark, gesund. Auf der anderen Seite die – in Anführungszeichen „Untermenschen“: die Juden, die Kranken, die Schwachen … Sofort nach der Machtübernahme 1933 begannen die Nationalsozialisten mit der politischen Umsetzung ihrer rassistischen Ideologie. Einerseits sollten durch Projekte wie dem „Lebensborn e.V.“ diejenigen zur Fortpflanzung animiert werden, die dem blonden Ideal entsprachen. Andrerseits diente eine Flut von Gesetzen der Durchsetzung der sogenannten „Rassenhygiene“ und legalisierte staatliche Sanktionen gegen Menschen mit unerwünschtem Erbgut – egal ob aus gesundheitlichen oder anderen Gründen. ERZÄHLER: Vom Juli 1933 stammte das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das staatlich verordnete Zwangssterilisationen erlaubte und im Laufe der Jahre systematisch erweitert wurde, ebenfalls 1933 „Gesetz über Förderung der Eheschließungen“, Juni 1935 „Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, September 1935 „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, Oktober 1935 „Ehegesundheitsgesetz“ ... ERZÄHLERIN: Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges war der normale Alltag außer Kraft gesetzt. Die Nationalsozialisten begannen mit der Ermordung all jener, die sie vorher gesellschaftlich ausgegrenzt hatten. Um die Mordaktion zu verschleiern, trat die Zentraldienststelle T4 nach außen hin je nach Bedarf unter verschiedenen Tarnnamen auf. ERZÄHLER: Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten, Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege, Gemeinnützige Krankentransport GmbH und Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten. ERZÄHLERIN: Im Deutschen Reich gab es etwa 800 psychiatrische Einrichtungen. Initiiert durch die Zentraldienststelle T4 in Berlin wurden ab Oktober 1939 sechs der großen Pflegeanstalten gemietet oder beschlagnahmt: ERZÄHLER: Als erstes Schloss Grafeneck in Württemberg, weitere folgten in Brandenburg an der Havel, Bernburg an der Saale, Hartheim bei Linz, Hadamar bei Limburg und auf Schloss Sonnenstein bei Pirna. ERZÄHLERIN: Gaskammern und Krematorien wurden eingebaut und zuverlässiges Personal angeworben: Verwaltungspersonal, Fahrer für die Deportationen, Leichenbrenner, Ärzte, die das Töten der Patienten übernahmen. O-TON3 HOHENDORF 43‘‘ Bei der Rekrutierung wurde den Leuten noch nicht klar gesagt, was auf sie zukommt. Die wurden also so sukzessive damit konfrontiert. Man hat die Aktion im Groben erläutert. Aber dass es sich tatsächlich um ein industrielles Massenvernichtungs-Programm gehandelt hat, das ist, glaub ich, vielen erst klargeworden, als sie dann tatsächlich in den Tötungsanstalten angekommen sind. Angedeutet wurde das in jedem Fall, verklausuliert formuliert, aber die ganz konkrete brutale Umsetzung – die haben sie, denke ich, vor Ort erfahren. ERZÄHLER: Unter dem Decknamen Doktor Schmitt war der junge Arzt Aquillin Ullrich 1940 einige Monate in der Tötungsanstalt in Brandenburg tätig – als Vertreter des Leiters Irmfried Eberl, der als Arzt für die Ermordung zuständig war. Nach dem Krieg sagte Ullrich aus, dass er – wie für die Ärzte vorgeschrieben – bei der Untersuchung der entkleideten Opfer und bei der sich daran anschließenden Ermordung in der Gaskammer beteiligt war. Aus seiner Studentenzeit kannte Ullrich den Würzburger Professor für Psychiatrie Werner Heyde, der von Beginn an in die Euthanasie-Morde verwickelt war. Heyde hatte ihm von der Aktion erzählt und gefragt, ob er als Assistenzarzt beim Zitat: „Einschläfern“ ausgewählter Patienten mitarbeiten wolle. Nach einiger Bedenkzeit hatte er zugesagt, weil er – so sagte er aus – den „unheilbar Kranken“ bei der Erlösung von ihren Leiden habe helfen wollen. Bei seinem ersten Besuch in der Tötungsanstalt Brandenburg sei ihm klargeworden, dass es sich um industriellen Massenmord handle, er habe sich niedergeschlagen gefühlt, habe aber nicht den Mut aufgebracht abzusagen. ERZÄHLERIN: Aquillin Ullrich warb Studienfreunde für die T4 Aktion und wechselte Ende 1940 in die Zentraldienststelle nach Berlin, wo er in der Planungsabteilung arbeitete. Mit großem bürokratischen Aufwand plante und organisierte die Berliner Zentrale die Morde – nicht zuletzt auch aus Gründen der Verschleierung. In Zusammenarbeit mit dem Reichsministerium des Inneren erfolgte die Auswahl der Opfer mittels Meldebogen – O-TON4 HOHENDORF 38‘‘ …wo gefragt wurde nach der Diagnose der Erkrankung, nach der Dauer der Erkrankung, nach der Dauer der Anstaltsbehandlung, nach der Prognose, nach dem Kontakt zu Angehörigen und vor allem auch nach dem Verhalten. Und ganz am Ende sollte dann die Arbeitsfähigkeit in Prozent der Arbeitsleistung Gesunder eingeschätzt werden. Diese fehlende ökonomische Brauchbarkeit der Anstaltspatienten war das entscheidende Selektionskriterium der Aktion T4. ERZÄHLERIN: Die Direktoren der Heil- und Pflegeanstalten füllten die Meldebögen aus und schickten sie nach Berlin. Die Zentraldienststelle T4 verteilte sie dann an die psychiatrischen Gutachter, die in einem Kästchen am linken unteren Rand des Meldebogens ihr Urteil abgaben: ein rotes Kreuz stand für Liquidierung des Patienten; ein blaues Minus-Zeichen bedeutete, dass der Patient weiterleben durfte. Das war alles. Danach ging der Meldebogen an einen Obergutachter, der letztendlich über Leben und Tod entschied. Insgesamt waren etwa 40 Psychiater als Gutachter für die T4 Aktion tätig. Darunter waren Universitäts- und Anstaltspsychiater, die sich in den 1920er Jahren intensiv für die Reform der Psychiatrie eingesetzt hatten, nationalsozialistische Überzeugungstäter und auch solche, die sich eher als Verwaltungsbeamte verstanden und die Kosten in den überfüllten Anstalten reduzieren wollten. O-TON5 HOHENDORF 1‘12‘‘ Der Großteil der Psychiater hat in den 1930er Jahren den Schwerpunkt seiner Arbeit auf Prävention gelegt und gesagt: Unsere Hauptaufgabe ist eigentlich das deutsche Volk auf erbliche psychiatrische Erkrankungen zu screenen, das Sterilisationsprogramm zu unterstützen und an einem großen Erlösungswerk teilzuhaben. Und ich glaube, dass dies es den Psychiatern erleichtert hat, die Patienten dann auch letztlich den Deportationen der Aktion T4 auszuliefern. Es gibt eine enge Verknüpfung zwischen Heilen und Vernichten, also zwischen der Idee, dass man die unheilbaren Patienten, die sich auch durch die damals modernen Schocktherapieverfahren therapeutisch nicht positiv beeinflussen lassen, dass man diese Patienten loswird, um die damit verbundenen Ressourcen lieber für die heilbaren Patienten einzusetzen. ERZÄHLERIN: Die Direktoren der Pflege- und Heilanstalten wurden nicht offiziell darüber informiert, welchen Zweck die Erfassung durch die Meldebogen hatte. Spätestens aber als die ersten Transportlisten kamen mit den Namen von denjenigen, die verlegt werden sollten, war klar, dass es sich nicht nur um eine Erfassung für bürokratische Zwecke handelte. Unter dem Decknamen „Gemeinnützige Krankentransport GmbH“ organisierte die Zentralstelle die Deportationen in die Tötungsanstalten. Pro Transport wurden 40 bis maximal 150 Personen abgeholt: Menschen mit körperlichen oder geistigen Handicaps, mit psychischen Störungen, chronischen Krankheiten, Lernschwierigkeiten, Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft, Akademiker, Kaufleute, Handwerker, Arbeiter, Menschen, die sozial auffällig waren – etwa als Obdachlose oder Prostituierte. O-TON6 HOHENDORF 39‘‘ Im Grunde genommen setzen sich die T4 Opfer zusammen aus den Menschen, die damals aus den unterschiedlichsten Gründen heraus in Heil- und Pflegeanstalten eingewiesen wurden, weil sie als psychisch krank angesehen waren, weil sie mit den Leistungsanforderungen der NS Volksgemeinschaft nicht zurecht gekommen sind, weil sie vielleicht auch Straftaten begangen haben oder auf der Straße auffällig geworden sind, von der Polizei aufgegriffen wurden und dann eben in eine Heil- und Pflegeanstalt kamen. ERZÄHLERIN: Die Tötungsanstalten gaben sich den Schein einer normalen Heil- und Pflegeanstalt. Das Personal trug weiße Kittel. Bei Ankunft wurden die Männer und Frauen in einen Aufenthaltsraum gebracht, wo sie sich unter dem Vorwand einer Untersuchung ausziehen mussten. Anschließend wurden sie Ärzten wie Aquillin Ullrich vorgeführt, die ihre Identität überprüften, kontrollierten, ob die Entscheidung eines Obergutachters vorlag und entschieden, welche Todesursache offiziell angegeben werden sollte. Unter dem Vorwand, dass sie eine Dusche nehmen sollten, wurden die Gruppen dann geschlossen in die Gaskammern geführt. Das Einführen von Kohlenmonoxid war die Aufgabe der Ärzte. Durch ein Sichtfenster konnten sie das Sterben der Menschen beobachten. Nach einer knappen halben Stunde wurde der Gashahn zugedreht, die Gaskammern entlüftet und die Leichen dann ein bis zwei Stunden später von Pflegern in einen Totenraum gebracht, wo ihnen vor ihrer Verbrennung im Krematorium Goldzähne herausgenommen wurden. ERZÄHLER: Schloss Grafeneck bei Reutlingen: 9.839 Ermordete; Brandenburg an der Havel: 9.772 Ermordete; Bernburg an der Saale: 8.601 Ermordete; Hadamar in Nordhessen: 10.072 Ermordete; Hartheim bei Linz: 18.269 Ermordete; Schloss Sonnenstein bei Pirna 13.720 Ermordete. ERZÄHLERIN: Jeder Tötungsanstalt war ein Standesamt angeschlossen. Es stellte die Sterbeurkunden für die Ermordeten aus, die den Hinterbliebenen mit einem Begleitschreiben zugesandt wurden. ERZÄHLER: In diesen sogenannten „Trostbriefen“ drückten die Verantwortlichen ihr Bedauern aus, gaben natürliche Todesursachen wie Hirnschlag an und verwiesen darauf, dass nach dem langen unheilbaren Leiden der Tod sicher eine Erlösung gewesen sei. ERZÄHLERIN: Trotz strengster Geheimhaltung machten Gerüchte die Runde. Die grauen Busse, der Rauch über den Tötungsanstalten, der Gestank nach verbrannten Leichen … Das massenhafte Sterben der Psychiatriepatienten und -patientinnen sorgte für Aufsehen in der Öffentlichkeit. Im Frühjahr 1940 wussten oder ahnten zumindest weite Teile der Bevölkerung, was in den Tötungsanstalten vor sich ging. Widerstand und Protest regte sich insbesondere in kirchlichen Kreisen. Katholische und evangelische Bischöfe haben sich mit Eingaben an das Justizministerium gewandt, Staatsanwälte Ermittlungsverfahren eingeleitet. Doch der Versuch, die Morde auf legalem Weg zu stoppen, hatte keinen Erfolg. O-TON7 HOHENDORF 29‘‘ Das einzige was Erfolg hatte, war der öffentliche Protest. Und den hat beispielhaft der Bischof von Münster, Graf von Galen, in seiner Predigt am 3. August 1941 in der Lambertikirche in Münster umgesetzt, wo er öffentlich über die Deportation der Münsteraner Psychiatriepatienten berichtet hat. ERZÄHLERIN: Die mutige Predigt Graf von Galens gegen die Euthanasiemorde schlug hohe Wellen in der Öffentlichkeit. Um die Bevölkerung zu beruhigen, ließ Adolf Hitler im August 1941 die Mordaktion unterbrechen. Die Zentraldienststelle T4 in Berlin stellte ihre Tätigkeit zwar nicht ein, die Meldebogenerfassung ging weiter, aber die Deportationen der Patienten aus den Heil- und Pflegeanstalten fanden nicht mehr statt. Die Tötungsanstalten haben das Morden zum Teil ganz eingestellt. Andere hatten eine neue Opfergruppe. ERZÄHLER: In den Gaskammern in Bernburg an der Saale, auf Schloss Sonnenstein bei Pirna und in Hartheim bei Linz wurden Häftlinge aus Konzentrationslagern ermordet, die als arbeitsunfähig galten. ERZÄHLERIN: Neben der Ermordung der etwa siebzigtausend Patienten und Patientinnen, die von der Berliner Zentraldienststelle T4 aus den psychiatrischen Anstalten deportiert wurden, ließen die Nationalsozialisten noch weitere Zehntausende von Menschen unter dem Deckmantel der Euthanasie töten. Bereits seit 1939 wurden im Reichsgebiet Kinder und Jugendliche mit geistigen oder körperlichen Handicaps in extra dafür eingerichteten Kinderfachabteilungen ermordet. In den besetzten Ostgebieten wurden Psychiatrieinsassen erschossen, mit Gas oder wie auch immer getötet. Und in den psychiatrischen Anstalten vor Ort wurden ab August 1941 Patienten zwar nicht mehr von Bussen abgeholt und in den Tötungsanstalten ermordet, aber man forcierte ihr Sterben auf verschiedenste Art und Weise. Die Sterblichkeit in den Heil- und Pflegeanstalten stieg rapide an: von etwa 5 Prozent Ende der 1930er Jahre auf 20, 30 oder 40 Prozent in einzelnen Anstalten. O-TON8 HOHENDORF 58‘‘ Das hatte natürlich System, das bedeutet, dass man durch die Sparmaßnahmen und die schlechte Versorgung der Patienten einen deutlichen Anstieg der Sterblichkeit, insbesondere beispielsweise an Infektionskrankheiten, an Tuberkulose, bewusst in Kauf genommen hat. Und diese deutliche Erhöhung der Sterblichkeit, die muss man eigentlich zu den dezentralen Formen der Euthanasie rechnen. Und dann kommt man letztlich zu dem Ergebnis, dass durch Vernachlässigung, schlechte medizinische Versorgung, durch Verhungernlassen, aber auch durch überdosierte Medikamente in den Heil- und Pflegeanstalt noch deutlich mehr Patienten gestorben sind und zu Tode gebracht wurden, als der Aktion T4 zum Opfer gefallen waren. Dadurch erklärt sich auch die hohe Gesamtopferzahl geschätzt mit den besetzten Gebieten auf 300.000. ERZÄHLERIN: In den nationalsozialistischen Mörder-Kreisen diskutierte man immer wieder die Möglichkeit, die Morde durch ein Euthanasie-Gesetz zu legalisieren. Doch Adolf Hitler war dagegen. Noch wollte er kein Euthanasie-Gesetz, weil er sich damit öffentlich zu der Ermordung von Patienten psychiatrischer Anstalten hätte bekennen müssen. Er hatte Angst vor Widerstand und Protest in der Bevölkerung. O-TON9 HOHENDORF 48‘‘ Er hat gedacht, wir können die Euthanasie, die Vernichtung lebensunwerten Lebens, eigentlich erst dann in unsere Lebensform integrieren, ja, also Euthanasie als normaler Bestandteil der medizinischen Norm psychiatrischen Versorgung, wenn das deutsche Volk reif dafür ist und wenn der Widerstand der Kirche gebrochen ist. Und das erhoffte man sich eben erst nach dem Endsieg. Da wollte man alles offenlegen. Und da wollte man mit allen Gegnern abrechnen. ERZÄHLERIN: Vorerst jedoch begannen die Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Ostgebieten. Die Zentraldienststelle T4 in Berlin stellte morderprobte Experten zur Verfügung: Köche, Fahrer, Kuriere, Krankenpfleger, Leichenbrenner, aber auch Führungspersonal, das sich mit Gas-Massenmorden auskannte. Sie fanden ein neues Aufgabengebiet in den Todeslagern Belzec, Sobibor und Treblinka, in deren Gaskammern 1942/43 innerhalb weniger Monate ein bis zwei Millionen jüdische Männer, Frauen und Kinder getötet wurden.…
Witold Pilecki war wohl der einzige Häftling, der freiwillig im KZ Auschwitz war. Unter falschem Namen berichtete der polnische Untergrundkämpfer von 1940 bis 1943 den Alliierten von den Zuständen im Lager. Von Niklas Nau (BR 2017) Credits Autor: Niklas Nau Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Katja Amberger, Stefan Merki Technik: Christiane Gerheuser-Kamp Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Giles Bennett Linktipps: BR (2023): Verfolgt. Versteck. Verschleppt. – Die letzten Überlebenden des Holocaust Am 27. Januar 1945 wurde das Nazikonzentrationslager Auschwitz befreit. Innerhalb weniger Jahre sind dort über eine Million Menschen vernichtet worden. Der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie entkamen nur wenige. Thomas Muggenthaler berichtet über die letzten Überlebenden des Holocaust und ihre exemplarischen Geschichten aus Bayern. JETZT ANHÖREN arte (2019): Geboren in Auschwitz 1944 brachte eine junge Jüdin in Auschwitz ein Baby zur Welt. Das Kind wurde Angela genannt und wog nur ein Kilo. Die Mutter versteckte Angela fünf Wochen lang – bis zur Befreiung des Todeslagers. - Eine Dokumentation über zwei Generationen von Frauen, die entschlossen sind, sich von dem Schrecken von Auschwitz und den anhaltenden transgenerationalen Wunden zu befreien. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „ TATORT GESCHICHTE “ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN . Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK & ATMO Straßenatmosphäre, Schreie SPRECHERIN 19. September 1940, 6 Uhr morgens. Razzia im besetzten Warschau. Die SS treibt aufgegriffene Männer in Fünfergruppen zusammen. Einer von ihnen trägt einen Pass mit dem Namen Tomasz Serafiński bei sich. Doch der Pass ist falsch, und der Mann, der ihn bei sich trägt, hat sich absichtlich festnehmen lassen, um nach Auschwitz verfrachtet zu werden. Tatsächlich heißt er Witold Pilecki und ist ein polnischer Untergrundkämpfer. Er ist wohl der einzige Mensch der Welt, der freiwillig ins Konzentrationslager Auschwitz geht. 945 Tage wird Pilecki dort zubringen und später alles genau niederschreiben. Tag 1: Ankunft im Lager: ZITATOR Wir wurden auf eine größere Gruppe Scheinwerfer zugetrieben. Unterwegs wurde einem von uns befohlen, zu einem Posten am Straßenrand zu laufen; ein kurzer Feuerstoß aus einer automatischen Waffe mähte ihn nieder. Zehn Mann wurden willkürlich aus der Gruppe herausgezerrt und als „Kollektivstrafe“ für den von der SS inszenierten „Fluchtversuch“ mit Pistolen erschossen. Die elf Leichen wurden dann mit Stricken an den Beinen hinterhergeschleift, die Hunde auf die blutigen Körper gehetzt. All das unter Gelächter und Scherzen. Wir kamen zu einem Tor in einem Stacheldrahtzaun, über dem „Arbeit macht frei“ zu lesen stand. Erst später verstand ich, was das bedeutete. MUSIK SPRECHERIN Auschwitz. Ein Name, der gleichbedeutend geworden ist mit der Vergasung von Millionen Juden durch die Nazis. Doch bei seiner Errichtung 1940 hat das Lager einen anderen Zweck, erklärt Giles Bennett vom Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München. GILES BENNETT 1 Das, was wir heute Vernichtungslager nennen, war es nicht, es gab keine industrielle Massenvernichtung, und es gab dort auch noch keine Vergasung. Am Anfang, 1940, ist das Lager Auschwitz ganz klar gegründet, um die polnischen Eliten zu unterdrücken. In den Augen Hitlers, in den Augen des Nationalsozialismus galten die slawischen Völker, darunter die Polen, als – in Anführungszeichen – minderwertig. Und Ziel war es, die Eliten Polens zu zerstören, um aus ihnen ein – in Anführungszeichen – anführerloses Sklavenvolk zu machen. SPRECHERIN In dieses Lager kommt Witold Pilecki. Ein Foto zeigt ihn in gestreifter Lageruniform, die Haare kurz rasiert, mit der Häftlingsnummer 4859. Scharf geschnittene Nase, buschige Brauen und tief liegende Augen, in denen man glaubt, Entschlossenheit zu sehen. Ein polnischer Patriot. Später beschreibt er die Erlebnisse in einem Bericht, der unter dem Titel "Freiwillig nach Auschwitz" von Orell Füssli auch auf Deutsch herausgegeben wurde. Darin schildert Pilecki, warum er nach Auschwitz gekommen ist: ZITATOR Die Hauptaufgabe war: Die Einrichtung einer militärischen Organisation, um die Moral der Kameraden zu stärken, indem ich Nachrichten aus der Außenwelt beschaffte und weitergab; wann immer möglich, Nahrungsmittel und Kleidung zu organisieren und unter den Mitgliedern zu verteilen; Informationen aus dem Lager an die Außenwelt weiterzuleiten und, als krönenden Abschluss, unsere eigenen Kräfte aufzustellen, um das Lager zu übernehmen, wenn die Zeit reif war, uns durch Fallschirmtruppen oder abgeworfene Waffen zu unterstützen. SPRECHERIN Die Ausgangsbedingungen, die Pilecki für diese Aufgabe bei seiner Ankunft im Lager vorfindet, erscheinen ihm auf entsetzliche Weise – günstig. MUSIK ZITATOR Krankenmann war dafür zuständig, die fast täglichen Häftlingszugänge so schnell wie möglich umzubringen. Sein Charakter war für diese Aufgabe besonders gut geeignet. Wenn jemand versehentlich einige Zentimeter zu weit vorne stand, rammte ihm Krankenmann das Messer, das er im rechten Ärmel trug, in den Bauch. Wer davor so viel Angst hatte, dass er zu weit zurückwich, bekam von diesem Mörder einen Messerstich von hinten in die Nieren, während er durch die Reihen lief. Der Anblick des schreiend zusammenbrechenden Häftlings, dessen Beine im Sand scharrten, brachte Krankenmann in Wut. Er sprang dem Mann auf die Brust, trat ihm in die Nieren und in die Genitalien und brachte ihn so schnell wie möglich um, während wir gezwungen waren, schweigend zuzusehen. Der Anblick traf uns wie ein elektrischer Schlag. Dann spürte ich einen einzigen Gedanken, der diese Schulter an Schulter aufgestellten Polen durchlief. Ich spürte, dass wir alle endlich durch dieselbe Wut vereint waren, in einem Durst nach Rache. Ich spürte, dass ich hier die perfekte Umgebung für meine Arbeit finden würde, und empfand tatsächlich so etwas wie Freude… SPRECHERIN: Der brutale Krankenmann ist dabei kein Angehöriger der SS, sondern Teil eines perfiden Systems, das die SS schon im „Modell-Lager“ Dachau entwickelt hat: Aus den Reihen der Gefangenen werden Vorarbeiter – sogenannte Kapos – sowie Blockälteste und Lagerälteste ausgewählt. Funktionshäftlinge: GILES BENNETT 2 Diese Funktionshäftlinge, die hatten durch ihre Position gewisse Privilegien, also ein eigenes getrenntes Bett, mehr zu essen, ein bisschen andere Kleidung. Gleichzeitig mussten sie dann auch die Befehle der SS tatsächlich umsetzen – und hatten dabei aber manchmal auch kleine Spielräume, also wenn es hieß, du musst fünf Leute von deinem Block in das schlechte Arbeitskommando schicken, dann konnte der Funktionshäftling oft entscheiden, welche fünf das waren. SPRECHERIN Doch viele der – anfangs meist deutschen - Funktionshäftlinge gehen mit besonderer Brutalität gegen ihre Mitgefangenen vor, wie etwa Krankenmann. GILES BENNETT 3 Solche Dinge passieren auch, wenn man Menschen die Möglichkeit dazu einfach gibt, ihren niedersten Instinkten nachzugehen. Und man darf auch nicht vergessen, auch jeder Funktionshäftling befindet sich in einem Kampf ums nackte Überleben. Es ist also eine künstlich durch die SS hergestellte Situation, in der es einen Kampf aller gegen alle grundsätzlich ums Überleben gibt. Und das ist denke ich auch ein Grund, warum dann diese Positionen von „ein kleines bisschen Macht“ – nicht von allen aber von vielen Funktionshäftlingen – so missbraucht wurden. SPRECHERIN In den Auschwitzprozessen nach Kriegsende werden mehrere Funktionshäftlinge wegen mehrfachen Mordes oder Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord zu lebenslanger Haft verurteilt. Krankenmann ist nicht darunter. Er war schon 1941 bei der SS in Ungnade gefallen und auf dem Weg in ein anderes Lager entweder von seinen Mithäftlingen erhängt, oder später mit ihnen vergast worden. MUSIK SPRECHERIN Pilecki beginnt mit dem Aufbau seiner Organisation. Er organisiert Mithäftlinge, von denen er viele noch aus dem polnischen Untergrund kennt, in Fünfergruppen. MUSIK Einzelne Zellen, die vorerst nichts voneinander wissen sollen, damit bei der Enttarnung einer Zelle nicht die gesamte Organisation gefährdet wird. Doch mit steigender Anzahl der Zellen gibt es zufällige Aufeinandertreffen: ZITATOR Mehr als einmal kam ein Angehöriger dann zu mir und berichtete: „Übrigens, da ist noch irgendeine andere Organisation als unsere im Lager tätig.“ Ich sagte dann immer, er solle sich keine Gedanken machen. SPRECHERIN Auch andere Häftlinge gründen in Auschwitz Widerstandsgruppen, mit denen Pileckis Organisation teilweise zusammenarbeitet. Schon relativ bald nach seiner Ankunft, im November 1940, gelingt es Pilecki außerdem, mittels eines freigekauften Häftlings, der zu seiner Organisation gehört, einen ersten Bericht an seine Vorgesetzten in Warschau zu schicken. Ab jetzt werden weitere Berichte über verschiedene Kanäle folgen, die der Welt Informationen über die Zustände im Lager liefern. GILES BENNETT 4 '41 kommt der erste längere Bericht, wo auf Grundlage seiner Informationen im polnischen Untergrund ein Bericht über Auschwitz verfasst wird, nach London übermittelt wird, über Kuriere meistens, über Funksprüche, wo sehr viele Leute also ihr Leben riskiert haben, um diese Informationen nach draußen zu bringen. Und diese Informationen hat die polnische Exilregierung dann auch an die anderen Alliierten weitergegeben. SPRECHERIN Pilecki hofft, dass die Alliierten durch seine Informationen überzeugt werden, das Lager zu bombardieren oder zumindest Waffen für einen Aufstand abzuwerfen. Dann will er das Lager mit seiner Organisation übernehmen. Doch Generalleutnant Peirse, Oberbefehlshaber des britischen Bomberkommandos, erklärt 1941, dies sei momentan unmöglich. Die britischen Bomber würden für Einsätze gegen die deutsche Industrie gebraucht, und bei Angriffen auf Auschwitz würde man wahrscheinlich lediglich selbst Häftlinge töten. Pilecki plant langfristig – und weiß selbst doch nie, ob er den nächsten Tag noch erleben wird. In Auschwitz gibt es viele Möglichkeiten, zu sterben. Anfang 1941 kämpft Pilecki im läuseverseuchten Lazarett, das viele Häftlinge nicht mehr lebend verlassen, mit einem schweren Fieber; wahrscheinlich aufgrund einer Lungenentzündung. ZITATOR Im Sommer war es eine Zeit lang verboten gewesen, die Fenster zu öffnen – die Kranken hätten sich ja erkälten können. Alle litten unter der Hitze und dem Gestank. Jetzt, bei scharfem Frost, wurden zweimal täglich alle Fenster aufgerissen und der Krankenbau ausführlich gelüftet. SPRECHERIN Am dritten Tag kann Pilecki Kontakt zu einem polnischen Arzt aufnehmen, der Pfleger im Lazarett ist – und eines der ersten Organisationsmitglieder. ZITATOR Wenn du mich nicht sofort rausholst, verbrauche ich meine letzten Kräfte im Kampf gegen die Läuse. In meinem jetzigen Zustand habe ich es nicht mehr weit bis zum Schornstein des Krematoriums. SPRECHERIN Der Arzt schafft es, ihn auf eine andere Station zu verlegen, ihm Decken und Medizin zu verschaffen. Pilecki entkommt dem Krematorium – dank seines langsam wachsenden Netzwerkes. MUSIK SPRECHERIN Im Jahr 1941 werden einige der Häftlinge, die bei Straßenrazzien aufgegriffen wurden, von ihren Familien aus Auschwitz freigekauft. Eine Chance für Pilecki, das Lager zu verlassen. Er hat bereits reichlich Informationen gesammelt und mit dem Aufbau des Widerstandes begonnen. Außerhalb des Lagers warten seine Frau und seine zwei Kinder. Doch in seinen Bericht schreibt er später: ZITATOR (S. 114) Die Aufgabe, die ich auszuführen begonnen hatte, nahm mich inzwischen aber so völlig in Anspruch, dass ich mir, seit mein Plan in Gang gekommen war, wirklich Sorgen machte, dass meine Familie mich womöglich freikaufen und so mein Spiel durchkreuzen würde, denn auch ich saß ja ohne Anklage hier und war bloß bei einer Razzia aufgegriffen worden. Ich durfte meine Aufgabe hier natürlich nicht erwähnen und schrieb deshalb an meine Familie, es gehe mir gut, sie sollten meinen Fall nicht wieder aufbringen, und ich wolle bleiben und abwarten, was das Schicksal für mich bereit halte. MUSIK SPRECHERIN Als Hitler im Sommer 1941 die Sowjetunion überfällt, wird in Auschwitz zum ersten Mal das Giftgas Zyklon B gegen sowjetische Kriegsgefangene eingesetzt. Pilecki berichtet von einer dieser Vergasungen, bei der mehrere hundert sowjetische Offiziere in einen Raum gesperrt werden. ZITATOR Am Abend traf eine Gruppe deutscher Soldaten unter Führung eines Offiziers ein. Die Gruppe betrat den Raum, legte Gasmasken an, warf einige Behälter mit Gas hinein und beobachtete die Auswirkungen. Kameraden von uns, die als Pfleger arbeiteten und am folgenden Tag die Leichen bergen mussten, erzählten, wie schrecklich es war. Die Männer waren so dicht zusammengequetscht, dass sie sogar als Tote nicht umfallen konnten. SPRECHERIN Rudolf Höß, der Lagerkommandant von Auschwitz, schreibt in seinen Aufzeichnungen, der Anblick der vergasten Menschen habe ihn damals beruhigt. Denn es müsse ja „in absehbarer Zeit mit der Massen-Vernichtung der Juden begonnen werden“, und nun habe man endlich die richtige Methode dafür entdeckt. Pilecki selbst reagierte damals noch naiv, als ihm ein Mitglied seiner Organisation von der Vergasung berichtet: ZITATOR Er war sehr verstört und kam schnell zu der Vermutung, dass diesem Versuch weitere folgen würden, womöglich mit Häftlingen. Das erschien damals noch unwahrscheinlich. MUSIK SPRECHERIN Der polnische Untergrund im Lager Auschwitz ist langsam stark genug, um mehr zu tun, als seine Leute in guten Arbeitskommandos zu platzieren und einige der Kapos auf seine Seite zu ziehen. Er schafft regelmäßig Informationen nach draußen und erhält Medizin und andere Hilfsgüter, etwa über zivile Arbeiter, die im Lager ein und aus gehen können. 1942 bauen die Widerständler aus Einzelteilen einen funktionierenden Radiosender zusammen und berichten der Außenwelt über das Lager. Die Lagerleitung tobt, und bald müssen sie den Sender wieder abbauen, um nicht aufzufliegen. Als Fleckfieber, von Pilecki als Typhus bezeichnet, unter den Häftlingen ausbricht, versucht sich der Untergrund sogar in biologischer Kriegsführung. ZITATOR Im Labor des Krankenbaus züchteten wir typhusinfizierte Läuse und setzten sie bei jedem Apell und bei Blockinspektionen den SS-Männern auf die Mäntel. SPRECHERIN Welchen Anteil die Aktion daran hat, lässt sich nicht genau sagen, doch in den folgenden Monaten sterben mehrere Mitglieder der SS an Fleckfieber. Einer der größten mutmaßlichen Erfolge des Untergrunds ist, dass Lagerkommandant Höß seinen Posten vorübergehend räumen muss. Wohl deshalb, weil zu viele grausame Vorgänge aus dem Lager durch den Widerstand an die Weltöffentlichkeit gelangt waren. Doch die Vorgänge selbst kann der Widerstand nicht aufhalten. Neben dem bestehenden KZ Auschwitz wird ein neues Lager errichtet - das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. GILES BENNETT 5 Man beginnt dann ab der ersten Jahreshälfte 1942 im Stammlager Ausschwitz vor allen Dingen aber im neu damals zur errichtenden Lager Auschwitz 2, Auschwitz-Birkenau, in zwei umgebauten Bauernhäusern damit, Vergasungen durchzuführen mit Zyklon B, also mit Zyankali. Und da beginnt der Charakter von Auschwitz eine zusätzliche Dimension zu bekommen. Es bleibt die ganze Zeit auch ein Konzentrationslager, und ab dieser Zeit bekommt es zusätzlich den Charakter eines Vernichtungslagers, das heißt die Funktion dieses Lagers wird erweitert. MUSIK SPRECHERIN Ab Sommer 1942 werden fast jeden Tag mehrere hundert, manchmal auch mehrere tausend Juden in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau getötet, die anderen zu Arbeit für die deutsche Rüstungsindustrie gezwungen. ZITATOR (S.157) Man teilte sie in zwei Gruppen. Männer und Jugendliche über dreizehn bildeten die eine, Frauen und alle Kinder unter dreizehn die andere. Das geschah unter dem Vorwand, dass sie jetzt duschen würden und man sie, weil sie sich dazu ausziehen mussten, des Schamgefühls wegen trennte. Auch die Kleidung mussten die Angehörigen beider Gruppen auf großen Haufen deponieren, die angeblich zur Desinfektion gingen. Jetzt bekamen die Menschen wirklich Angst, dass ihre Kleidung und Unterwäsche durcheinandergeraten würden. Dann gingen sie zu Hunderten, Frauen und Kinder von den Männern getrennt, in die Gebäude, wo sich angeblich die Duschen befanden. In Wirklichkeit waren es die Gaskammern. SPRECHERIN Es wird noch bis Ende 1943 dauern, bis Auschwitz zum Zentrum der Judenvernichtung wird – dies sind im Moment noch die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka. Doch auch jetzt schon ist Auschwitz ein großindustrieller Schlachthof für Menschen. MUSIK SPRECHERIN Auch im Stammlager werden die Häftlinge nun nicht mehr wahllos totgeprügelt. Der Tod kommt nun auch hier mit kalter Präzision. Erschießungen, Gas, Phenolspritzen. Doch groteskerweise sind die Bedingungen für die polnischen Häftlinge im Lager, die nicht durch Todesspritzen oder an der Erschießungswand sterben, besser als vielleicht jemals zuvor. Ihre Arbeitskraft wird gebraucht, Misshandlungen sind seltener geworden, sie dürfen sogar Lebensmittelpakete empfangen. Der Widerstand ist inzwischen gut organisiert und vernetzt, besitzt laut Pilecki sogar Nachschlüssel für die Waffenlager MUSIK Kommt es jetzt bald zum Aufstand, den Pilecki sich erträumt hat? Im Frühjahr 1943 verlegt die Lagerleitung tausende von polnischen Häftlinge in andere Lager. Pileckis Organisation wird auseinandergerissen. ZITATOR (S.212) Da entschied ich, dass es jetzt zu schwierig sei, hier noch weiterzumachen. Nach zweieinhalb Jahren hätte ich mit „neuen Jungs“ völlig von vorne beginnen müssen. SPRECHERIN Pilecki beschließt, das Lager zu verlassen. GILES BENNETT 6 Ich kann nicht in seinen Kopf blicken, und wir haben im Wesentlichen zu dieser Frage Aufzeichnungen, die ein, zwei Jahre später unter anderen Voraussetzungen aufgeschrieben wurden. Ich denke, dass es sicher ein Ursachenbündel ist. Es ist wahrscheinlich die sich verändernde Situation im Lager, der zunehmende Druck auf die Widerstandsorganisation im Lager, das Scheitern eines großen Aufstandsversuchs, aber es geht auch darum, dass er ausführliche Informationen über das Lager nach außen bringen möchte. Und so einen langen Bericht wie er ihn da geschrieben hat, den kann er eigentlich nur nach einer Flucht schreiben. MUSIK SPRECHERIN Pilecki legt die Zukunft der Organisation in die Hände seiner Vertrauten im Lager und plant seine Flucht. Er schleust sich und zwei Mithäftlinge mit Unterstützung seines Netzwerkes in die Nachtschicht der Bäckerei ein, die außerhalb des Lagers liegt. Mithilfe eines vorher nachgemachten Schraubenschlüssels öffnen sie heimlich die schwere Stahltür nach draußen. MUSIK ZITATOR Dann geschah das Unerwartete. Von einem sechsten Sinn oder einfach einem momentanen Einfall getrieben, ging der SS-Mann zur Tür hinüber, stellte sich dicht davor und inspizierte sie. (…) Wenn der SS-Mann plötzlich Alarm gab, würden wir uns auf ihn stürzen, ihn bewusstlos schlagen und fesseln müssen, ohne uns erst absprechen zu müssen. Fiel ihm denn nichts auf? Schlief er mit offenen Augen, dachte er an etwas anderes? Ich weiß bis heute nicht, warum er nichts bemerkte. SPRECHERIN Pilecki und seinen Begleitern gelingt die Flucht. Nach 945 Tagen in Auschwitz ist Pilecki wieder frei. Er hat überlebt. MUSIK SPRECHERIN Nach seiner Flucht schreibt Pilecki mehrere Fassungen seines Berichts. Zusammen mit anderen Berichten werden seine Schilderungen Teil der Auschwitz-Protokolle, die 1944 die Alliierten detailliert über die Vernichtung in Auschwitz aufklären und vor dem bevorstehenden Mord an den ungarischen Juden warnen. Doch die Alliierten konzentrieren ihre Bombenangriffe weiter auf militärische Ziele. GILES BENNET 7 Die Überlegungen resultierten in einer Entscheidung, je schneller wir diesen Krieg gewinnen, desto schneller hört die Verfolgung auf. Und man darf nicht vergessen, damals für Präzisionsbombardierung, nach den damaligen technischen Gegebenheiten und geographischen Gegebenheiten, die lange lange Flugstrecke, das war eine hoch-schwierige, wahrscheinlich nicht wirklich mögliche Operation. Ein Flächenbombardement hätte immer auch bedeutet, die Häftlinge zu gefährden. Wir reden hier von einem Ziel am absoluten Limit der Bomberreichweiten. MUSIK SPRECHERIN 1944: Innerhalb weniger Wochen werden 450.000 ungarische Juden nach Auschwitz deportiert und größtenteils sofort ermordet. Auschwitz ist zum Zentrum der Judenvernichtung geworden, als das wir es heute in Erinnerung haben. SPRECHERIN Neueste Forschung stellt in Frage, ob die Idee, sich nach Auschwitz bringen zu lassen, wirklich Pileckis eigene war oder die einer seiner Vorgesetzten. GILES BENNETT 8 Es kann sein, dass ihm jemand da den Befehl gegeben hat, den er dann auch angenommen hat. Ich persönlich finde die Frage nicht so wichtig. „Freiwillig nach Auschwitz“ – das ist natürlich ein sehr plakativer Titel. Aber seine Leistung, seine Taten beschränken sich nicht in dieser einen Entscheidung. Sondern wir sehen hier jemanden, der bewusst, von der Freiheit seines Volkes überzeugt, sich in sehr gefährliche Situationen begibt. MUSIK Auch nach Auschwitz riskiert Witold Pilecki weiter alles. Er kämpft beim Warschauer Aufstand gegen die Deutschen. Er überlebt den Krieg und schließt sich im Nachkriegspolen dem antikommunistischen Untergrund an. Dann wird er von der kommunistischen polnischen Geheimpolizei festgenommen, gefoltert und 1948 nach einem Schauprozess hingerichtet. Ein imperialistischer Spion soll er sein, ein Vaterlandsverräter. Er, der ohne zu zögern für die Freiheit Polens nach Auschwitz ging.…
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